Frizz - Sein Leben (1943-1980)
- fboell8
- 6. Juni
- 79 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 26. Sept.
Von ihm selbst erzählt.
Hamlet
Die Stille legt sich auf die Bühne herab.
Ich stehe am Eingang.
Mein Herz erfasst mich in der Seele,
Bin ich allein mit dieser Wirklichkeit.
Ich sehe in der Ferne das Ende der Bahn,
Im Echo des Tausendjährigen Irrtums.
Es ist unmöglich zu ertragen
Den Strom der Dinge in diesem Getümmel.
Die Einsamkeit ist das Los des Akteurs.
Das Stück will aufgeführt werden.
Ich liebe dich, mein Gott,
Das ist die Wahrheit.
Wenn du es willst,
Lass mich fallen wie ein Spielball auf den Boden.
Doch ich glaube nicht an das Schicksal.
Ich glaube nicht an den Schein, der mich umgibt.
Ich bin nur der, der die Stimme hören wird.
Die Stimme des Seins.
Ich bin nur der, der die Wahrheit sagen wird.
Die Wahrheit des Seins.
Ich bin nur der, der auf der Suche ist
Nach der Wahrheit des Seins.
(Boris Pasternak: Doktor Shiwago, Ü. Thomas Reschke)
Der wackre Schwabe forcht’ sich nit,
Ging seines Weges Schritt vor Schritt.
(Schwäbische Kunde, Ludwig Uhland)
Vom Anfang
Zeit: Morgen nach der Walpurgisnacht 1943 bis März 1949.
Orte: Degmarn, X.
Fährt man in Baden-Württemberg von Oe. im Kreis Heilbronn nach Westen, dann zweigt nach wenigen Kilometern links eine Straße ab. Ein Straßenschild zeigt an, dass man hier nach D. kommt. Am Dorfeingang liegt gleich links der Friedhof. Ein Besucher, der von dort ins Dorf hineingeht, kommt zunächst auf der rechten Seite an einer Gastwirtschaft vorbei. Der Wirt Karl Bertsch hatte im Ersten Weltkrieg als Kanonier der Artillerie gekämpft. Er hieß deshalb zur Unterscheidung von den zahlreichen anderen „Bertschen“ der Dorfgemeinschaft nur der „Kanonier“ Bertsch.
Weiter unten liegt links das Haus von Karl Sch., meinem Großvater, dem Bürgermeister des Dorfes, wo am Morgen nach der Walpurgisnacht 1943, am 1. Mai, um halb neun Uhr die Hebamme meine Nabelschnur durchtrennte. So jedenfalls wurden Tag und Uhrzeit im „Merkbuch über das Leben unseres Kindes“ meiner Mutter notiert, und ein Morgenmensch bin ich bis heute geblieben.
Mein Geburtstag, der Tag der Arbeit, ein Tag, an dem die Arbeit ruht, kam meinem trägen Naturell entgegen. Besser konnte ich mir den Anfang nicht wünschen.
Vom Haus meines Großvaters aus sieht der Besucher weiter unten im Dorf das Rathaus, seinen Amtssitz. Zu seinem Verwaltungsapparat gehörte seine zweite Tochter Gabriele, meine Patentante, als Schreibkraft, und der Gemeindebote. Dessen Aufgabe war die Information der Dorfbewohner über Beschlüsse des Gemeinderates und die Bekanntmachung von Todesfällen und Aufgeboten.
Er geht in Ausübung seines Amtes am Samstagmorgen an festgelegte Stellen im Dorf und läutet mit einer Glocke. Dann liest er, bemüht um eine hochdeutsche Aussprache, mit amtlicher Stimme, von einem Blatt Papier die einzelnen Punkte ab. Dabei verspricht er sich häufig und muss den verdorbenen Satz noch einmal von vorn beginnen.
Am Rathaus vorüber und weiter ins Dorf hinein, gelangt der Besucher zum Kirchplatz mit dem Pfarrhaus und der Schule. Der Dorfschullehrer, der alle Kinder des Dorfs in zwei Gruppen unterrichtet, ist in Personalunion auch Leiter des Kirchenchors und Organist der barocken Kirche, deren charakteristischer Zwiebelturm den Blick vom unterhalb gelegenen Kochertal dominiert.
Damit ist man schon fast am östlichen Rand des Dorfes. Eine kleine Straße führt noch links zum Sportplatz und der Turnhalle und dann ist mit dem Laden des „Kaufmanns“ Bertsch diese Welt schon zu Ende. Von hier führen nur noch Feldwege zur Bahnstation und den Äckern ins Tal der Kocher hinab.
Hier war meine Mutter, Anna Maria Antonie Sch., aufgewachsen. Bei meiner Geburt war sie eine 22-jährige Landpomeranze, ein hübsches und keckes Ding, das als älteste der vier Töchter ihres Vaters des Bürgermeisters, zu „Höherem“ bestimmt war. Dumm war sie nicht; aber Bauersfrau wollte sie keinesfalls werden.
Meine Eltern hatten sich über eine Kontaktanzeige im Café Luitpold in München kennengelernt. „Tonis“ gutes Aussehen und ihr Schwäbisch, das meine Muttersprache wurde, hatten meinen Vater sofort bezaubert. Deshalb war es nicht schwierig, ihn unter der Mithilfe ihrer Familie in den Ehe-Hafen zu lenken.
Dr. med. Friedrich Arthur B., mein Vater, war zum Zeitpunkt meiner Geburt als Angehöriger einer Sanitäts-Staffel der Wehrmacht auf dem Balkan und in Griechenland unterwegs. Ihn lernte ich erst kennen, als er einmal auf Heimaturlaub in D. war.
Mein Leben wurde vom ersten Tag an von den Frauen im Haushalt meines Großvaters bestimmt. Das waren nicht wenige. Karl Sch. lebte mit seiner Mutter, seiner Frau, vier Töchtern, zwei Schwestern und einer Tante in dem großen Haus.
Ich habe mir später immer vorgestellt, dass mein Großvater wohl mit Wehmut zwischen meinen Beinen das gesehen haben mochte, was bei seinen vier Töchtern fehlte. Erst lange nach dessen Tod erfuhr ich, dass er ein knappes Jahr vor meiner eigenen Geburt doch noch einen Sohn bekommen hatte, allerdings nicht im häuslichen Wochenbett, sondern aus dem Schoß einer anderen Frau.
Welcher Frau?
Die Gastwirtschaft Bertsch lag schräg gegenüber dem Hause meines Großvaters. Der „Kanonier“, ein kleiner, rundlicher Mann mit dunklem Hautkolorit, fast schwarzen Augen und ebensolchen Haaren, ähnelte eher einem Südländer als einem Germanen. Mit seiner Frau Anna hatte er zwei Töchter, wie ihre Mutter ländliche Schönheiten mit dunkler Hautfarbe und schwarzen Haaren.
Karl Sch. dagegen war ein schlanker, gut aussehender Mann, blond, mit hellen Augen, der im Krieg als Ulan auf dem Pferd in die Schlacht geritten war. Er vertrug allerdings konstitutionell bedingt den Alkohol nur schlecht und war deshalb, ungewöhnlich für einen Schwaben, kein großer Freund des Weines. Dennoch trank er am Wochenende beim informellen Austausch mit den anderen Bauern des Dorfes sein „Viertele“ beim Bertsch.
Seine Stellung und sein Aussehen waren aber wohl nicht die einzigen Gründe, aus denen die Wirtin Anna sich ihm öffnete, es muss auch eindeutiges Drängen seinerseits mit im Spiel gewesen sein. Seine eigene Anna hatte ihm, eine nach der anderen, vier Töchter geboren, aber keinen Sohn. Warum es nicht mal mit dieser Anna probieren, mag er sich gedacht haben, als ihm die hübsche Wirtin einmal nachschenkte. Mit ihr, der Frau des „Kanoniers“, zeugte er jedenfalls seinen - wahrscheinlich einzigen - Sohn.
Der Kanonier wird sich über diesen Nachzögling seine eigenen Gedanken gemacht haben, denn der kleine Albert war im Gegensatz zu seinen wesentlich älteren Schwestern hellhäutig, hatte blauen Augen und blonde Locken. Er war ein Jahr älter als ich, und als Kinder haben wir beide oft zusammen gespielt.
Der Krieg war am 1. Mai 1943 noch nicht in D. angekommen, wenn man davon absieht, dass die meisten Männer eingezogen waren und die Landwirtschaft ganz von den Frauen gemacht wurde. Aber er kam unaufhaltsam näher.
Meine früheste Kindheitserinnerung ist eine Situation im Keller des Hauses, wohl bei einem Bombenangriff. Eine elektrische Funzel pendelt flackernd am Deckengewölbe, Staub erfüllt den Raum; ich höre dumpfes Grollen und das Gemurmel betender Menschen. Dann der Ruf von oben: „D´ Scheier brennt!“ (Dialekt: „Die Scheune brennt!“)
Das war im Frühjahr 1945, als die Amerikaner in Süddeutschland einmarschierten.
Noch Jahre später warnten mich meine Tanten, in den Lohwald zu gehen, wo sich eine Stellung der Amerikaner befunden hatte. Diese waren in ihrer Erinnerung bösartige schwarze Teufel, die die Männer erschossen und Mädchen und junge Frauen vergewaltigten.
Eine gewisse Sicherheit vor ihnen bot das „Kocherhäusle“, das sich mein Großvater unterhalb des Dorfes am Ufer des Kochers gebaut hatte. Dorthin zog er sich zurück, wenn er seine Ruhe haben wollte, vielleicht aber auch, um ungestört ein Liebesabenteuer zu genießen, wer weiß das schon.
Meine Mutter, die in erster Linie für mich verantwortlich gewesen wäre, arbeitete damals für die Wehrmacht. Deshalb konnte sie sich, wie sie später sagte, nicht so intensiv um mich und meinen jüngeren Bruder kümmern, wie es Mütter normalerweise tun. Das ist aber nur die Hälfte der Wahrheit. Wahr ist auch, dass sie in mir und meinen Geschwistern nicht nur ihre Kinder sah, die sie auf ihre Art sicher liebte, sondern vor allem auch nützliche Familienmitglieder, denen man bestimmte Aufgaben übertragen konnte. Als eigene Persönlichkeiten, die einen verlässlichen Gefühlskanon benötigen, der sich auf Geborgenheit, Sicherheit und Liebe begründet, hat sie uns beide erst in zweiter Linie gesehen. So scheint es mir im Rückblick jedenfalls.
Möglicherweise hatte sie diese fundamentalen Elemente der Beziehung zwischen Eltern und Kindern selbst nicht erlebt. Sie war in einer Zeit aufgewachsen, in der Eltern ihre Kinder vor allem unter dem Aspekt der Nützlichkeit sahen.
Für meinen Bruder und mich waren aus diesen Gründen von Anfang an vor allem meine Großmutter und Tante „Male“ zuständig. In der Obhut dieser beiden verbrachte ich meine ersten Lebensjahre, und beide hinterließen dauerhafte Spuren in mir.
Es waren zwei Lebensbereiche, in denen sie mich prägten:
Meine Tante vermittelte mir ein völlig unrealistisches, küchenromantisches Bild vom Wesen der Frau. Ihre Botschaft war, kurz gesagt: Frauen sind zarte, engelhafte Wesen, rein und keusch, die man achten und verehren muss.
Von meiner Großmutter kam eine tiefe religiöse Indoktrination. Sie gab mir ihrem inbrünstigen katholischen Glauben zugleich einen übertriebenen Sinn für Pflichterfüllung mit, eine Art von Gewissenhaftigkeit, bei der selbst kleine Verfehlungen große Schuldgefühle erzeugten. Diese Sünden konnten zwar vom lieben Gott vergeben werden, aber besser war es, sie gar nicht erst zu begehen.
Wenn sie mir am Abend mit ihrem rauen Daumen das Kreuz auf die Stirn zeichnete und dazu den Spruch von den Engeln sagte, die am Haupte, zu Füßen und auf beiden Seiten über mich wachten, dann erfüllte mich ein tiefes Vertrauen in den Schutz des lieben Gottes.
Sang sie aber ihre Version des Liedes vom Maikäfer,
„Maikäfer flieg, der Vater ist im Krieg, die Mutter ist im Pommerland,
das Pommerland ist abgebrannt“,
entstand in mir ein Gefühl von Verlorenheit, eine bodenlose Traurigkeit und die Gewissheit des sicheren Untergangs.
Nach Abschluss seiner chirurgischen Ausbildung übernahm mein Vater 1947 die Praxis des verstorbenen Dr. Sp. in X. in einem großen Haus an der Ecke Bahnhofstraße-Poststraße. An den Außenwänden des Hauses, in dem wir im Erdgeschoss wohnten, waren noch deutliche Spuren des Krieges sichtbar.
Hier lebten noch zwei weitere Familien.
Im ersten Stock wohnte die Familie des Lehrers Josef E., seine Frau Caecilie („Cilly“) und die Töchter Marianne und Hildegard. E. stammte aus der Krefelder Gegend, hatte sich aber das hiesige Platt so gut angeeignet, dass er Gedichte und Geschichten auf Platt schrieb, einer Sprache, aus der seine Frau und ich heute nur noch einige spezielle Ausdrücke kennen und benutzen.
Seine Gedichte wurden schnell Volksgut. Selbstverständlich mussten seine Schüler sie lernen, weshalb Bewohner, die wie ich in der Bemmelschule seine Schüler waren, auch heute noch das eine oder andere wie am Schnürchen herunterrasseln können.
Eine weitere, unausgesprochene Pflicht, galt es am 19. März, seinem Namenstag, zu erfüllen. An diesem Tag brachten die Söhne der Landwirte aus der Umgebung einen sogenannten „Hötzelpott“ mit, Fleisch und Wurst aus der ersten Schlachtung des Jahres, und auch die Kinder aus der Stadt brachten Geschenke, die auf das Pult des Lehrers Engel gelegt wurden, bevor er morgens das Klassenzimmer betrat.
Engel war aber nicht nur Dichter, sondern auch ein begabter Schauspieler.
Bei den sommerlichen Aufführungen des Nibelungendramas im Birtener Amphitheater spielte er den Siegfried, und einige Jahrzehnte lang ritt er am Abend des 11. November als St. Martin auf einem Schimmel durch die Straßen. Mit seiner hoch gewachsenen Gestalt, seiner ausgeprägten Nase, der spitzen Bischofsmütze, dem Krummstab und dem langen weißen Bart war er ein St. Martin wie aus dem Bilderbuch.
Sein Pferd musste beim Ritt durch die Stadt wegen seiner bescheidenen Reitkünste von einem Reitknecht geführt werden. Leute, die immer alles wissen, erzählten anderen, die nie etwas wissen, dass das Pferd vor dem Einsatz mit Bier sediert wurde, um ganz sicher zu gehen, dass es nicht aussbrach.
E. war nicht zuletzt auch ein Freund des Weines und schöner Frauen. An den Stammtischen wurde unter Gelächter immer wieder erzählt, wie er, nur im Hemd, und mit der Hose in der Hand, aus dem Schlafzimmer eines Gärtners floh, als dieser unerwartet früh von der Jagd zurück kam und angesichts der eindeutigen Situation zur Schrotflinte griff.
Aber diese Geschichten gibt es ja überall.
Im zweiten Stock des Hauses Sp. wohnte Fräulein G., eine gottergebene Jungfrau, die an der Marienschule unterrichtete.
40 Jahre nach der Zeit, von der berichtet wird, suchte sie mich wegen eines Knotens am Unterschenkel in meiner Praxis auf. Bei der operativen Entfernung lehnte sie eine Lokalanästhesie vehement ab. Gott hatte ihr diesen Knoten als Strafe für ihre Verfehlungen geschickt und sie musste als Buße dafür die Schmerzen der Operation auf sich nehmen, so in etwa war ihre Denkungsart. Sie gab weder beim Schneiden noch bei der Naht einen Mucks von sich.
An die zwei Jahre im St.-Viktor-Kindergarten habe ich kaum Erinnerungen. Nur, dass ich wegen meines schwäbischen Dialektes gehänselt wurde, ist sicher so gewesen.
Aus dem täglichen Leben im Hause Sp. sind mir bis auf das stampfende Geräusch der Dampfloks und das Pfeifen der Züge von der nahe gelegenen Bahnlinie her, die mich abends in den Schlaf begleiteten, wenig deutliche Erinnerungen geblieben.
So lag ich einmal mit meiner Mutter abends im Bett, als mein Vater hereinkam und sich zu uns setzte. Es gab irgend einen Streit. Plötzlich fiel ein großes Bild, das über dem Bett hing, von der Wand. Mein Vater fing es blitzschnell auf, bevor es uns am Kopf traf. Vielleicht ist das aber auch nur die Erinnerung an einen Traum.
Wenn wir Kinder krank waren, behandelte mein Vater uns selbst. Seine Methoden waren aus heutiger Sicht fragwürdig. Als mein Bruder Masern bekam, wurde er in einem mit Jalousien abgedunkelten separaten Raum ins Bett gelegt. Statt mich aber von mir zu isolieren, wurde ich zu ihm gelegt. Ich sollte gleich auch die Masern bekommen, damit dieses Kapitel in einem Zug erledigt wäre.
Das hatte zur Folge, dass ich einige Tage später hohes Fieber und einen juckenden Hautausschlag bekam. Alles verlief heftiger als bei meinem Bruder. Besonders unangenehm war eine Bindehautentzündung, von der mir eine lebenslange Neigung zu entzündeten Lidrändern geblieben ist.
Die Standardtherapie meines Vaters bei fieberhaften Entzündungen war die Verabreichung von Penizillin, bei Durchfall und stärkeren Schmerzen verordnete er Opiumtropfen. Besonders ekelhaft war allerdings der tägliche Löffel Lebertran, den wir zur Vorbeugung gegen Rachitis schlucken mussten.
Milchzähne, die nicht spontan ausfielen, zog mein Vater ebenfalls selbst. Diese Prozedur ist mir in unangenehmer Erinnerung. Wenn einer meiner Zähne sich lockerte, wurde ich in die Praxis gerufen, wo mein Vater groß und massig in seinem weißen Arztkittel stand. Er hielt die rechte Hand hinter dem Rücken verborgen und deutete mit dem Zeigefinger der Linken stumm auf den Platz vor sich. Ich kam zögernd näher, hielt aber etwa einen Meter vor ihm an. Der Vater winkte erneut, bis ich vor ihm stand. Dann forderte er mich auf, den Mund zu öffnen, die rechte Hand, in der er eine Zange hielt, immer noch hinter seinem Rücken. Als ich voller Angst den Mund halb geöffnet hatte, fuhr er mit einer blitzartigen Bewegung in meinen Mund, zog den Zahn und zeigte ihn mir anschließend. Ich hatte vor Angst und Schreck nichts gemerkt.
Rückblickend kommt es mir manchmal vor, als ob Vater Fritz dabei seinen Kindern gegenüber weniger vorsichtig und zurückhaltend war als bei seinen anderen Patienten.
In den ersten Schuljahren war die Pockenimpfung obligat. Die unangenehme Prozedur wurde in der Schule durchgeführt. Die Schüler traten klassenweise in Trägerhemdchen und Sporthose an, der Impfarzt machte mit einer Lanzette einen kreuzförmigen Schnitt auf der Außenseite des Oberschenkels und schmierte mit der Klinge den Impfstoff in die Wunde.
In den ersten Schuljahren wurde bei allen Kindern damals auch ein Tuberkulin-Test gemacht. Wir bekamen ein Pflaster auf die Brust geklebt, unter dem sich nach einigen Tagen ein kleines Knötchen entwickelte. Gleichzeitig wurde die Lunge mittels eines Röntgenapparates „durchleuchtet“, wie man das nannte.
Das Elternhaus meines Vaters lag an der Ecke von Kurfürststraße und Bahnhofstraße. Im Erdgeschoss des im Krieg zerstörten stattlichen Hauses lag das Geschäft meines Großvaters, der Haushaltswaren, Lebensmittel, „edle Porzellane“, Kolonialwaren und Zigarren führte. An das Geschäft angegliedert war eine Gastwirtschaft, daneben befand sich auf der Bahnhofstraße eine Scheune.
Dort wurden die Kutschpferde der Großbauern ausgespannt und gefüttert, die sonntags zur Messe aus der Umgebung in die Stadt kamen. Anschließend gingen die Männer in die Wirtschaft, die Frauen bestellten Waren, die montags frei Haus geliefert wurden. Die Abrechnung erfolgte jeweils am Ende des Monats.
In der Scheune waren auch die Seile und Kuhstricke gelagert, die mein Großvater in seiner Seilerei im Garten hinter der Mühle am Nordwall herstellte. Das war die Aufgabe von August Gürttler, einem ehemaligen Militärtrompeter, der als Faktotum meines Großvaters bis zu seinem Tod das „Gnadenbrot“ von ihm bekam.
Im Frühjahr 1945 wurde das Haus an der Kurfürstenstraße bei Luftangriffen der Engländer von einer Brandbombe getroffen und brannte fast vollständig ab.
Eine Nachbarin meines Großvaters berichtete mir später, alles habe lichterloh gebrannt; die im Keller des Geschäftes gelagerten Pökel-Schinken seien durch die Hitze explodiert und hoch in die Luft geschleudert worden, und hätten dabei wie brennende Fackeln den Dom angezündet.
Da ist viel Fantasie von ihr dabei, dachte ich, als ich das hörte, denn der Nordturm des Domes und das Mittelschiff wurden ganz sicher nicht durch die explodierenden Schinken meines Großvaters, sondern durch Brandbomben zerstört. Zutreffend dürfte aber die Aussage der Frau sein, dass mein Großvater, der doch in seinem Geschäft Zigarren nicht nur verkaufte, sondern auch gerne selbst eine rauchte, am Ende dieses Tages zu ihr kam und fragte, ob sie nicht eine Zigarre für ihn habe: ihm war nichts geblieben.
Die Aussage einer anderen Frau, dass es nach der Zerstörung des Hauses zu Plünderungen gekommen sei, erscheint mir glaubhafter. Sie nannte mir sogar die Familie, die aus den Trümmern das Silberbesteck meines Großvaters weggeschleppt habe.
Schon Ende 1946 hatte mein Großvater in einem provisorisch hergerichteten Gebäudeteil an der Bahnhofstraße sein Geschäft aber wieder eröffnet. Hier begann mit der Einstellung als Verkäuferin das Leben meiner Mutter als Geschäftsfrau.
Das Geschäft Johann B., geführt von meiner Mutter, wurde 1949 an der Kurfürstenstraße 16-18 wieder eröffnet. In die dadurch freigewordenen Räume an der Bahnhofstraße hatte mein Vater gleichzeitig seine Praxis verlegt und die Familie wechselte vom Hause Sp. in das Eckhäuschen am Westwall, das den Krieg unbeschadet überstanden hatte.
Als Geschäftsfrau hatte meine Mutter wenig Zeit, sich um den Haushalt zu kümmern, der ihr ohnehin nicht lag. Deshalb waren meine Tante Male oder die Oma aus D. häufig in X., um die Abläufe im häuslichen Bereich zu regeln.
Daneben gab es aber noch einen anderen Grund für ihre häufigen Besuche. In der Ehe meiner Eltern kriselte es schon damals. Die Gründe kannte ich im Einzelnen nicht, aber vermutlich spielten der starke Alkoholkonsum meines Vaters und das immer wieder auftretende Heimweh meiner Mutter dabei eine wichtige Rolle.
Meine Mutter hatte keinen einfachen Charakter. Sie ließ sich nichts sagen und wollte immer bestimmen. Wie ihre Schwestern war sie streng katholisch erzogen worden und wuchs, was die Rolle der Frau in Ehe, Mutterschaft und Kindererziehung betraf, in Vorstellungen auf, die völlig unrealistisch waren.
Dazu kam, dass Mentalität und Temperament der Menschen in X. völlig anders waren als ihre schwäbische Lebensart.
Die Mutter meines Vaters war am zweiten Weihnachtstag 1925 an einer Lungenembolie gestorben, er war erst elf Jahre alt. Sein Bruder Jonny und er kamen ins Internat G., einer katholischen höheren Bildungsanstalt für Jungen in der Nähe der holländischen Grenze, etwa 25 km von X. entfernt. Dort wurde ihnen ein streng katholisch geprägtes Frauenbild vermittelt, ein Bild aus der Sicht eines benevolenten Patriarchen, das vermutlich schon während der Schulzeit durch die Fantasien der pubertierenden Jünglinge, erst recht später im Studium und beim Militär, fast vollständig zur Zeichnung sexueller Begierde hin verändert wurde.
Die Sicht meiner Eltern auf die Bestimmung der Frau als Mutter und Hausfrau, die in erster Linie für die Erziehung der Kinder und Ordnung im Hause zuständig ist, war aber die gleiche. Über die harten Fakten des Ehealltags hatten wahrscheinlich beide vor der Ehe eine falsche Vorstellung, die - nach der Hochzeit - der schmerzhaften Erkenntnis wich, dass die tatsächlichen Abläufe des Ehelebens nicht mit ihren idealisierten Vorstellungen übereinstimmten.
Auch im Verhältnis zum Alkohol gab es große Unterschiede zwischen der Lebenswelt in X. und D. In X. wurde regelmäßig und viel getrunken. Es gab ständig Gelegenheiten zum Feiern: Schützenfeste, Prozessionen, Jubiläen, Stammtische und vieles andere mehr. Und gab es gerade einmal keinen speziellen Grund, dann wurde eben einer gesucht und gefunden.
In der Familie meiner Mutter war das anders. Karl Sch. besaß zwar als Bürgermeister eine Lizenz zum Brennen, das Destillat, in der Regel Zwetschgen- oder Kirschwasser, wurde aber fast ausschließlich für gesundheitliche Zwecke, wie zum Beispiel feuchte Umschläge auf Schwellungen und Prellungen verwendet; getrunken wurde es selten. Den Feldarbeitern wurde nach Feierabend zwar Apfelmost eingeschenkt, aber in der Familie trank man nur bei Festen Wein. Mein Großvater vertrug, wie gesagt, den Alkohol schlecht. Hatte er einmal im Gasthaus Bertsch zwei „Viertele“ getrunken statt einem, dann kam er schon mit einem „Räuschle“ heim. Seine Frau brachte ihn dann schnell ins Bett, damit er am nächsten Tag wieder „schaffen“ konnte.
Meine Mutter war es nicht gewohnt, dass im Hause regelmäßig Alkohol getrunken wurde, und kam nun in eine Gesellschaft, die bei jeder Gelegenheit trank. Als sie nach Wiedereröffnung der Kneipe Geschäftsfrau und auch Wirtin geworden war, konnte sie, wenn Runden gegeben wurden, nicht dauernd passen. Außerdem erleichterte der Alkohol die jetzt doppelte Belastung. So wurde der Alkohol auch für sie zum täglichen Begleiter, wie er es für meinen Vater seit jeher gewesen war.
Zurück in die frühen 50er Jahre.
Die häufige Anwesenheit meiner Oma und meiner Tante hatten außer der Regelung des Haushaltes vor allem den Zweck, meine Mutter in ihrer schwierigen Lebens- und Ehesituation zu unterstützen. Die Probleme wurden aber nicht allein durch meinem Vater verursacht, denn meine Mutter war, wie gesagt, eine schwierige und kapriziöse Frau, mit der er nicht fertig wurde.
Das verstärkte wahrscheinlich noch seine Neigung zum Alkohol, was in einem Teufelskreis die ohnehin schon bestehenden Differenzen verstärkte.
Die Oma war nicht beliebt, denn sie sorgte rigoros für Ordnung und achtete streng darauf, dass alles in ihrem Sinne lief. Besonders lag ihr die Einhaltung der religiösen Regeln durch ihre Enkel am Herzen. Dazu gehörten der sonntägliche Kirchgang, das morgendliche Gebet, das Tischgebet und das Nachtgebet, später die regelmäßige Beichte und Kommunion. Sie brachte uns abends früh zu Bett, unsere Nachtruhe begann spätestens um sieben Uhr.
In der Rückschau ist aber sie die einzige verlässliche Bezugsperson für mich. Mich, ihren ältesten Enkel, hatte sie besonders ins Herz geschlossen, wobei ihr angesichts der Eheprobleme meiner Eltern meine christliche Erziehung besonders wichtig war. Wenn ich jetzt im Alter an sie zurückdenke, beeindruckt mich besonders neben ihren unermüdlichen Fleiß und ihrer unnachgiebigen Strenge ihre Geradlinigkeit und Verlässlichkeit. Und ganz sicher bin ich einer der wenigen, der erfahren hatte, dass hinter ihrem harschen Verhalten ein liebevolles Herz steckte.
Auch Tante Male, die jüngste Schwester meiner Mutter, war oft zu Besuch in X. Sie sorgte sich vor allem um meinen Bruder Wolfgang, den sie Ende 1944, als er an einer Lungenentzündung lebensgefährlich erkrankt war, in eine Tasche gepackt vom unter Beschuss liegenden Dorf hinunter ins Kocherhäusle getragen hatte, wo er unter ihrer intensiven Pflege und vielen nächtlichen Gebeten gesund wurde.
Mein Großvater Karl Sch. war nur selten zu Besuch in X. Er hatte 1946 als Mitgift die für den Haushalt dringend benötigte Ausstattung mit Möbeln und allem, was sonst dazugehört, in einen Eisenbahnwaggon geladen. Zur Bewachung des Transportes fuhren zwei seiner Töchter im Zug mit, der nach zwei langen Tagen in einem Behelfsbahnhof, einige Kilometer von X. entfernt, ankam. Die Ladung wurde von einem Fuhrunternehmer in einer Pferdekutsche zu unserem Haus gebracht.
Der wertvollste Teil der Mitgift war ein alter, noch im Krieg gebauter Opel P4, mit dem mein Vater jetzt auch Patienten besuchen konnte, die in der weiteren Umgebung X.’s wohnten. Die Besuche in der Stadt hatte er vorher mit dem Fahrrad machen müssen.
Das Auto war äußerst unzuverlässig. Oft musste mein Vater den Motor mit der Kurbel anwerfen, und immer wieder war morgens die Batterie leer. Der Wagen wurde dann von der ganzen Familie die Poststraße hinunter angeschoben. Meine Mutter und die Kinder stemmten sich hinten gegen den Wagen, mein Vater schob vorn bei geöffneter Fahrertür mit. Wenn die Geschwindigkeit ausreichend war, sprang er aus dem Lauf auf den Fahrersitz und legte einen Gang ein, worauf das Auto ruckte und der Motor, wenn wir Glück hatten, ansprang.
Bei seinen seltenen Besuchen zeigte sich, dass der Opa noch strenger war als seine Frau. Eine Szene am Mittagstisch habe ich nie vergessen.
Ich hatte mich geweigert, einen Auftrag von ihm auszuführen, worauf er zornig rief: „Unnütze Fresser können wir an unserem Tisch nicht brauchen!“. Ich musste den Tisch verlassen. Diesen „unnützen Fresser“ habe ich noch heute im Ohr!
Außer seiner Alkoholintoleranz hatte er noch eine andere Besonderheit: seine Blutgruppe war AB-neg. Für diese seltene Variante gab es, mit Ausnahme seiner dritten Tochter Rosa, die auch AB-neg war, im ganzen Kreis Heilbronn weder Konserven noch Spender. Nach einer Prostata-Operation aufgrund des starken Blutverlust es dringend eine Transfusion. Er erhielt sie unmittelbar von seiner Tochter, die auf einer Liege neben ihm lag.
Bei der Beschreibung meiner Verwandtschaft darf Onkel Reinhard nicht fehlen, eines jener damals nicht seltenen Originale, die heute aus dem Leben der Gesellschaft von heute nahezu verschwunden sind. Er war der Mann der ältesten Schwester meines Vaters. Bei der Hochzeit war er fast fünfzig, seine Frau, die wegen einer Gehbehinderung ohnehin wenig Chancen auf dem Heiratsmarkt hatte, ging nach einer fehlgeschlagenen Liebesaffäre - rechtzeitig vor der Hochzeit kam heraus, dass ihr Verlobter homosexuell war - schon auf die dreißig zu.
Reinhard K.s Familie gehörte seit Urzeiten zur lokalen Bauernschaft.
Er bewirtschaftete einen großen Hof in der Umgebung der Stadt, zusammen mit vier unverheirateten bzw. verwitweten Schwestern, die die Arbeiten im Haus und im Garten machten. In der Landwirtschaft legte er selbst aber auch nur selten Hand an, die Knochenarbeit erledigten Knechte und Mägde.
Onkel Reinhard war ein urwüchsiger Mensch, ein Bär von Mann, wie man so sagt, der gern zur Jagd ging und oft mit anderen Bauern in Kneipen saß.
Er hatte verschiedentlich in seinem Leben großes Glück gehabt. Einmal kollidierte er mit seinem Auto an einem Bahnübergang mit einem Zug. Sein Beifahrer kam dabei zu Tode, er selbst wurde aus dem Wagen geschleudert und blieb fast unverletzt. Ein anderes Mal, als er die Messer für die Mähmaschine schärfte, brach der Schleifstein und zerschmetterte ihm den Unterschenkel. Er hatte die Handkurbel entfernt und den Stein über einen Treibriemen mit der Kurbelwelle seines Traktors verbunden. Die erhöhte Rotation hatte den Stein auseinandergerissen.
Eine seiner Marotten war die Meinung, sein Blut sei zu dick. Deshalb musste mich mein Vater ein- bis zweimal im Jahr zur Ader lassen. Mein Onkel lag mit entblößtem Arm auf einem Sofa und seine für die Küche zuständige Schwester stellte einen Kochtopf darunter auf den Boden. Mein Vater stieß ihm eine Riesenkanüle in die Armvene, die fast so dick wie ein kleiner Gartenschlauch war. Das Blut schoss heraus und spritzte zunächst nicht in den Kochtopf, sondern platschte auf den Boden. Mein Vater durfte die Kanüle erst ziehen, als der Topf halb gefüllt war. Anschließend tranken beide einige große Gläser Wacholderschnaps.
Die Schule
Zeit: April 1949 bis Februar 1962 Orte: X., Geldern
Anfang April 1949 kam ich in die Schule. Im ersten Jahr war Josef E. mein Lehrer, der bereits vorgestellt wurde. Im zweiten Schuljahr hatten wir als Lehrer den wegen seiner cholerischen Anfälle gefürchteten Hans T.
Körperliche Züchtigungen waren damals noch gang und gäbe. T. praktizierte zwei Varianten:
1 Der Delinquent musste die rechte Handfläche auf das Pult legen und bekam dann von T. mit dem Zeigestock je nach Grad der Verfehlung 3-5 Schläge.
2 T. kniff mit Zeigefinger und Mittelfinger in die Wange des Schülers, zog ihn damit erst aus der Bank, dann nach oben und drehte dabei die Finger. Bei dieser Variante verzog nicht nur der Bestrafte, sondern auch er selbst das Gesicht; er biss sich auf die Zunge, deren Spitze seitlich aus dem Mund ragte, und seine Augen traten ein wenig hervor.
Er war aber kein kalter sadistischer Folterknecht wie manch anderer aus seiner Zunft. Er war lediglich ein leicht erregbarer und in der Wut unkontrollierter Pädagoge, der die zeitaufreibende Vermittlung von Lerninhalten bei begriffsstutzigen Schülern gern abkürzte.
Die Grundschule in X. war in zwei Gebäuden untergebracht, zwischen denen eine schmale Straße verlief. Die Haus für die Jungen lag auf der westlichen, die Mädchenschule auf der östlichen Seite der Straße.
Den Bereich der Mädchen zu betreten war für Jungen nicht erlaubt, und erst recht durften die Mädchen nicht auf den Schulhof der Jungen kommen. Beobachten konnte man sich aber in den Pausen sehr wohl. Zwei Mädchen waren meine Favoritinnen: Ellen K., eine Metzgerstochter, und Elisabeth, die ältere der beiden Schwestern R.
Mit dem Beginn der Schulzeit lernte ich neue Spielkameraden kennen. So auch meinen späteren Schwager Kurt, einen kräftigen Burschen mit pechschwarzem Haar, das ihm den Spitznamen „Kohle“ eingebracht hatte. Mit seinem draufgängerischen Wesen entsprach er ganz meiner Vorstellung eines heldenhaften Kämpfers, wie er in den Büchern, die ich zuerst las, immer beschrieben wurde. Schüchtern und zaghaft, wie ich war, wollte ich so sein wie er: mutig und stark.
Kurt wohnte am Rande der Stadt. Wenn ich bei schönem Wetter hinging und vor dem Haus laut ‚Kurt‘ rief, erschienen zuerst kichernd seine jüngeren Schwestern Margret und Roswitha an der Tür, die eine dick und blond, die andere dünn und schwarzhaarig. Wenn dann Kurt kam, ging es zum ‚Ströpen‘ in die Hees, einen bewaldeten Hügel südlich der Stadt.
Kurt hatte neben seiner kameradschaftlichen Seite auch eine jähzornige, aufbrausende, ja brutale Art. Diese lernte ich kennen, als wir eines Tages eine verletzte Taube fanden. In der Erinnerung sehe ich, wie Kurt die Taube zuerst in einen Sack steckt und dann mit einem Stück Holz wütend und erregt darauf einschlägt, bis sich nichts mehr darin regt.
Kurt war nach der Grundschule kurze Zeit mit mir auf dem Gymnasium, aber das Lernen war trotz guter Begabung nicht seine Sache. Er war mehr Macher als Theoretiker. Vielleicht hat es aber auch die finanzielle Situation eines Elternhauses mit sechs Kindern nicht erlaubt, ihm den kostspieligen Weg über das Gymnasium in ein Studium zu ermöglichen. Er wurde Vermessungstechniker und war viele Jahre beim Elektrizitätswerk angestellt.
Sein exzessives Zigarettenrauchen – er inhalierte im Schnitt 50 Zigaretten pro Tag – und sein gelegentlich starker Alkoholkonsum waren eine fatale Mischung, für die er im Alter von 50 Jahren mit einem frühen Tod an einem Herzinfarkt seinen Preis bezahlte.
Durch Kurt kam ich zum Sport.
In X. gab es zwei Sportvereine: den traditionellen Fußballklub TUS Siegfried 05 und den Sportverein der DJK (Deutsche Jugendkraft). Mein Vater war Mitglied bei Siegfried und ging sonntags oft mit uns Kindern zum Fußballplatz. Dramatisch waren die Lokalderbys. Wenn Siegfried gegen die DJK antrat, waren sowohl bei den Spielern als auch bei den Zuschauern Hitze und Aggression spür- und vor allem hörbar. Zwei Welten trafen hier aufeinander und machten aus sonst friedlich miteinander lebenden Bürgern erbitterte Gegner.
Links und rechts am Spielfeldrand standen die Schlachtenbummler einander gegenüber. Die Fans machten ihrem Ärger über vermeintliche Fehlentscheidungen des Schiedsrichters lauthals Luft – und jede Entscheidung war eine Fehlentscheidung, je nachdem, von welcher Seite sie beurteilt wurde. Die einen brüllten wüste Beschimpfungen und Drohungen zur anderen Seite hinüber, die ihrerseits sein Urteil natürlich als völlig richtig bejubelte. Spielern, die nach Meinung der einen Seite Fouls an der eigenen Mannschaft begangen hatten, wurden fürchterliche Prügel als Vergeltung angedroht.“
Kurt war in der DJK, und so trat auch ich diesem Verein bei. (Mein Mitgliedspass ist vom 12.10.1955.) Eigentlich wollten wir Fußball spielen, doch die Schüler-Fußballabteilung der DJK befand sich noch im Aufbau. Deshalb landeten wir zunächst in einer Turnerriege. Später wechselten wir beide zur neu gegründeten Schülermannschaft der DJK, wo Kurt Torwart war.
Das wichtigste Ereignis des zweiten Schuljahres war die Erstkommunion.
In der Familie meines Vaters, die seit Jahrhunderten katholisch war, wurden die Vorschriften und Riten des Glaubens nur locker befolgt und stets den dringenden Notwendigkeiten des Alltags nachgeordnet. Was jeweils als vordringlich galt, wurde dabei sehr flexibel ausgelegt..
In der schwäbischen Heimat meiner Mutter wurden die kirchlichen Regeln, die nicht nur das religiöse Leben, sondern auch den Alltag bestimmten, äußerst gewissenhaft befolgt. Selbst bei drohendem Unwetter, wenn die Ernte in Gefahr war, ruhte die Arbeit am Sonntag. Verstöße dagegen wurden von der Kanzel unter Nennung der Namen öffentlich angeprangert.
Im Hause meiner Großeltern in D., wo ich meine ersten Jahre verbrachte, gehörten Tisch- und Nachtgebet zum täglichen Leben. Drohte ein Unheil oder wollte man einer Bitte an den Himmel besonderen Nachdruck verleihen, so wurde der Rosenkranz gebetet.
Bei der Befolgung solcher Vorschriften – wie überhaupt bei allen Pflichten, die man mir übertrug – hatte ich seit jeher eine übertriebene Gewissenhaftigkeit gezeigt. Die Kehrseite davon war eine ausgeprägte Empörungsbereitschaft bei Regelverstößen durch andere sowie eine starke Empfindlichkeit gegenüber Ungerechtigkeiten, die mir oder anderen tatsächlich oder auch nur vermeintlich widerfuhren. Aus diesem Grund wollte ich später, als ich auf das Gymnasium ging, auch Rechtsanwalt werden. Es war nicht mein erster Berufswunsch. Als Kind wollte ich so werden wie die Zimmerleute, die ich nach dem Krieg oft beobachtete. Mit lässiger Sicherheit turnten sie hoch oben auf Dächern und Gerüsten und hämmerten große Nägel in Latten und Balken.
1951 war der Tag meiner Erstkommunion - der 'Weiße Sonntag' am 1. April. Wir waren inzwischen von dem Haus an der Poststraße in das Eckhäuschen an der Bahnhofstraße, Ecke Westwall, umgezogen. Durch den Religionsunterricht in der Schule war ich gründlich auf diesen Tag vorbereitet worden. Katechismus, Rosenkranz und vieles andere mehr - das waren die Mixturen, die wir immer wieder schlucken mussten, um uns auf das Sakrament vorzubereiten. Es glich einer Gehirnwäsche.
Der Beichtspiegel führte anhand von Beispielen alle Sünden und Todsünden minutiös auf. Vieles davon kannte ich nicht aus eigener Erfahrung - insbesondere die Unkeuschheit, jene fürchterliche Todsünde, die unweigerlich in die Hölle führte. Aus Vorsicht beichtete ich daher diese Sünde vor meiner Erstkommunion, wahrscheinlich zum Erstaunen des Mannes, der mir in der Dämmerung des Beichtstuhls hinter dem rautenförmigen Holzgitter zuhörte und mir die Absolution erteilte.
Mit Beginn der Pubertät fiel mir bei der Beichte immer mehr auf, dass Verstöße gegen das 6. Gebot das besondere Interesse der Beichtväter erregten. Sie waren so sehr auf Details erpicht, dass ich es schließlich unterließ, diese Sünde zu beichten, und auf die häufigen Nachfragen immer meine Keuschheit betonte. Das war eine Lüge und hatte nach den Regeln der Religion zur Folge, dass die Vergebung der Sünden durch den Priester nicht wirksam war. Ich wurde deshalb nach jeder dieser unvollständigen Beichtgänge von heftigen Gewissensbissen geplagt.
Die Festmesse zur Erstkommunion war ein Spektakel. Wir Kommunionkinder zogen in zwei Reihen in den Dom ein: links die Jungen in schwarzen Anzügen mit einem Myrtenzweig am Revers, rechts die Mädchen in weißen Kleidern mit Myrtenkränzchen auf dem Kopf und einem kleinen weißen Täschchen am Arm.
Während ich am Altar knieend wartete, den Heiland in Gestalt der Hostie zu empfangen glaubte ich, den Glanz einer Aureole um die weiße Oblate zu sehen. Dann schloss ich die Augen und spürte nur, wie der Priester sie mir auf meine herausgestreckte Zunge legte. Dort musste man sie zergehen lassen, so hatte man uns eingetrichtert, keinesfalls durfte man sie zerbeißen und sofort herunterschlucken.
Die Erstkommunion war nicht nur religiöser Akt, sondern vor allem ein Familienfest. Für uns Kinder ging es dabei weniger um den Heiland als um die Geschenke, die wir bekamen.
Hier standen die Taufpaten in einer besonderen Pflicht. Traditionell schenkten sie einen Rosenkranz, dazu den Jungen eine Armbanduhr, den Mädchen ein goldenes Kreuz und eine kleine Uhr an einem Kettchen. Die Uhr, die mir meine Patentante Gabriele schenkte, trug ich fast dreißig Jahre lang.
Viel interessanter für mich war aber das Geschenk von Onkel Paul: ein Paar Fußballschuhe! Ich zog sie, noch im Kommunionanzug, sofort an. Sie waren zu eng, aber Onkel Paul half mir, meine Füße hineinzuquetschen, wobei er mit Expertenmine sagte: „Fußballschuhe müssen eng geschnürt werden“. Er band die Riemen über den Sprunggelenken so fest, dass ich nur auf den Spitzen laufen konnte. Nach einigen Probe-Sprints auf dem Westwall schmerzte der Fuß dermaßen, dass ich die Schuhe ausziehen musste: Am Rist hatten sich auf beiden Seiten dicke Blasen gebildet.
Ich bekam auch Bücher: Heiligenlegenden und die Nibelungensaga, die mich nicht interessierten, aber auch den „Winnetou" von Karl May.
Das Buch war sehr dick und enthielt keine Bilder. Da ich im Lesen noch ungeübt war, lag es lange unbeachtet auf der Kommode in unserem Kinderzimmer. Doch wie es bei Büchern oft geschieht, wartete es geduldig auf den rechten Augenblick. Als dieser gekommen war, öffnete mir dieses Buch schlagartig die Tür zur Welt der Literatur, in der ich mich bis heute zu Hause fühle.
In der von Karl May beschriebenen Welt gab es, ähnlich wie in meinen Kinderbüchern, sagenhafte Abenteuer in fremden Ländern, Helden und Schurken, Edelmut und Verrat, mit dem Unterschied, dass Karl May das wirklich erlebt hatte.
Nachdem ich das Buch gelesen hatte, packte mich eine regelrechte Lesewut, die Sucht nach weiteren Abenteuern von Old Shatterhand. In ihnen las ich auch zum ersten Mal Wörter aus dem Englischen. Old Wabble’s ständiger Ausruf: „Heavens!“ war das erste englische Wort, dem ich kennen lernte, ohne zu verstehen, was es bedeutete.
Meinen Hunger nach Büchern stillte ich in der Borromäus-Bücherei am Kapitel. Der ehrenamtliche Bibliothekar Hans E. versorgte mich nicht nur mit Karl Mays Werken, sondern empfahl mir auch „Robinson Crusoe", „Die Schatzinsel", „Der letzte Mohikaner", „Die Sagen des klassischen Altertums" von Gustav Schwab und Hans Dominiks Science-Fiction-Romane wie „Atomgewicht 500". Später kamen die Krimis von Edgar Wallace hinzu und „Heftchen" (Comics) wie „Prinz Eisenherz" und „Nick Knatterton“.
Die Weihnachtstage, speziell der Heilige Abend, sind in jeder deutschen Familie etwas Besonderes. Während ich an die Weihnachtsfeste im Haus an der Poststraße keine Erinnerung habe, weiß ich noch gut, wie es im Eckhäuschen war.
Mein Bruder und ich glaubten am ersten Weihnachtsfest nach dem Umzug noch fest an das Christkind. Es kam aus dem Himmel, einer Welt ohne Schmerzen und Tränen - -, und brachte Geschenke, wenn wir brav gewesen waren.
Die Vorbereitungen am Heiligen Abend verliefen in rätselhafter Heimlichkeit. Den Baum aufzustellen und die Krippe zu dekorieren, einen Stall aus Fichtenholz, in dem die Figuren von Josef, Maria und dem Christkind, Ochs, Esel und zwei Hirten standen, geheimnisvoll beleuchtet von den flackernden Kerzen im dunklen Weihnachtszimmer, war Aufgabe meines Vaters. Wir Kinder warteten in der Küche fieberhaft auf den Augenblick, in dem das Weihnachtsglöckchen erklang - dasselbe Glöckchen, das ich übrigens heute, 70 Jahre später, immer noch am 24. Dezember zur Bescherung läute.
Bevor wir die Geschenke auspacken durften, mussten Weihnachtslieder gesungen werden. Mein Vater spielte am Klavier die alten Lieder. „Leise rieselt der Schnee“ und „Süßer die Glocken nie klingen“ sind noch heute meine Lieblingslieder.
An dieser Stelle muss ich zwei besondere weihnachtliche Vorkommnisse aus meiner Kindheit und Jugend erwähnen. Im Eckhäuschen waren Wohnzimmer und Esszimmer durch eine Schiebetür getrennt, die meist offen stand. Beide Räume beheizte ein gusseiserner Kohleofen, der in einer Mauernische zwischen den Zimmern stand. Das Ofenrohr führte an der Wohnzimmerwand entlang nach draußen aufs Dach.
Die Bedienung des Ofens oblag meinem Vater. Er füllte ihn mit Koks und entfernte nach dem Erkalten die Asche. An einem Weihnachtstag saß die Familie um den runden Tisch im Wohnzimmer, als es plötzlich einen dumpfen Knall gab. Kurz darauf breitete sich eine schwarze Wolke im Zimmer aus. Es waren kleine Rußpartikel, die sich als Folge einer Verpuffung im Ofenrohr im ganzen Raum verteilten, und in der Folge langsam, wie winzige Fallschirme, auf den Boden fielen.
Erst als der Ruß den Boden erreicht hatte und uns selbst und das gesamte Mobiliar bedeckte, löste sich die allgemeine Erstarrung. Ich sehe noch heute meinen Vater in seinem schwarzen Anzug mit Krawatte am Tisch - seine Glatze, den Haarkranz und die ausgeprägten Augenbrauen voller schwarzer Flöckchen.
Meine Mutter schimpfte und machte ihn für das Unglück verantwortlich. Er nahm es humorvoll, trank ein großes Glas Cognac und untersuchte dann den Ofen.
Die Zwischentür zum Esszimmer war glücklicherweise geschlossen gewesen. Das dort bereits aufgetischte Festessen war unbeschadet.
Einige Jahre später, wir wohnten bereits im Haus Kurfürstenstraße 18, ereignete sich die Geschichte vom Kampf meines Vaters mit dem Karpfen.
Das traditionelle Weihnachtsessen in der Familie meines Vaters war gebackener Karpfen. Deshalb hatte er sich einmal einen Karpfen statt des sonst üblichen Rehbratens mit Spätzle und Pfifferlingssoße auf dem Tisch gewünscht.
Der Fisch schwamm seit dem Vormittag in der Badewanne. Ihn schonend zu töten und fachgerecht zu zerlegen war Aufgabe meines Vaters, des Chirurgen. Abends um sechs Uhr ging er mit der Gummischürze um den Bauch, die er bei seinen Operationen in der Praxis trug, und einem Hammer in der Hand ins Badezimmer. Das übrige Instrumentarium, das er für die Zerlegung des Fisches brauchte, hatte er bereits aus seiner Praxis mitgebracht und als Wegzehrung eine kleine Flasche Rémy Martin auf die Waschmaschine gestellt. Nachdem er hineingegangen war, schloss er hinter sich ab.
Ich hatte die Vorbereitungen bemerkt, schlich mich an die Badezimmertür und lauschte. Zunächst vernahm ich Wassergeplätscher und ein- oder zweimal einen Plumps, als wäre etwas Großes ins Wasser gefallen. Ich hörte meinen Vater fluchen: „Komm doch endlich, verdammtes Biest!", „Verfluchtes Luder!", „Verflixt und zugenäht!“. Wahrscheinlich waren seine Versuche, den Fisch in der Badewanne zu fangen, misslungen.
Plötzlich wurde es ruhig, und ich hörte nur noch das zufriedene Grunzen meines Vaters. Nachdem es eine Weile ruhig geblieben war fiel ein Stuhl um, dann vernahm ich das Geräusch von rauschendem Wasser. Schließlich kündigte das Quietschen nasser Schuhsohlen an, dass mein Vater auf dem Weg zur Tür war.
Was im Badezimmer geschah, hatte ich wie eine Szene in einem Film plastisch vor mir gesehen:
• den Versuch meines Vaters, den Fisch in der Wanne mit dem Hammer zu töten
• seine Bemühungen, ihn im Wasser zu fassen und herauszuziehen
• wie er den Fisch schließlich in einem Putzeimer einfing, ins Waschbecken warf und mit dem Hammer auf den Kopf schlug, bis das Blut spritzte
• wie er ihn mit Skalpell und Schere zerschnitt, um ihn - mehr zerfetzt als zerlegt - auf einer großen Metallplatte in die Küche zu bringen
Als er mit rotem Kopf und blutverschmierter Schürze aus dem „Op“ kam, strahlten seine Augen vor Stolz. Das Bad glich einem Schlachtfeld: die Fliesen waren bedeckt mit Blutlachen, Spiegel und Waschbecken bespritzt. Die Cognacflasche war leer.
Das von uns Kindern nach Weihnachten am sehnsüchtigsten erwartete Fest war die Kirmes. Wenn bereits einige Tage vorher die Wagen der Schausteller in die Stadt rollten, strolchten wir nachmittags über den Markt, um zu sehen, ob es in diesem Jahr etwas Neues gab.
Damals waren die Buden, Karussells und Fahrgeschäfte einfacher als heute: Die Schiffschaukel musste man selbst in die Höhe bringen, in den Schießbuden zielte man mit Luftgewehren auf Gipsröhren, in die Blumen oder Federn gesteckt waren. Die Kleinsten saßen auf Pferdchen oder in kleinen Kutschen des Kinderkarussells und fuhren immer im Kreis herum.
Der Magnet auf dem Markt war der „Auto-Selbstfahrer“ (Autoscooter). Zu zweit saß man in einer Art Sitzbadewanne mit Steuerrad, die man selbst lenken und beschleunigen konnte. Den Strom bekamen die Wagen über lange Stangen von einem Drahtnetz an der Decke, wo die Funken der elektrischen Entladungen knisterten.
Eine Kirmes ohne Kirmesgeld war undenkbar. Unser Vater zahlte es uns jeden Morgen aus - allerdings nie sehr üppig, um uns Sparsamkeit zu lehren. Wenn wir mittags nach Hause kamen, hatte mein Bruder meist schon alles verprasst. Ich hielt länger durch, doch auch bei mir war lange vor dem Abend nichts mehr übrig.
Am Kirmes-Sonntag kamen traditionell die Verwandten meines Vaters zu Besuch, sein Bruder Jonny aus Düren und seine Schwäger Reinhard und Herbert. Sie trafen sich zum Frühschoppen im Hotel Hövelmann, wo wir Kinder unser Kirmes-Geld abholten. Dabei machte selbst der knauserige Onkel Herbert dann schon einmal ein 50-Pfennig-Stück locker, mit dem Hinweis, dass das für uns beide sei.
1952 gab es eine Änderung in unserer Familienstruktur. Kurz vor Weihnachten wurde im Schlafzimmer meiner Eltern meine Schwester Elisabeth geboren.
Von der Schwangerschaft meiner Mutter hatte ich nichts bemerkt. Wenn ich im Auftrag meiner Mutter meinen Vater sonntags vom Stammtisch im Hotel van Bebber zum Mittagessen holen sollte, hatte mich der Apotheker D. immer gefragt, ob ich lieber einen Fußball oder ein Schwesterchen hätte. Die Frage machte mich verlegen. Ich begriffe ihren Sinn nicht. Hört sich aber genau wusste war, welche Antwort die fröhlichen Männer am runden Tisch erwarteten: „Einen Fußball“. Ich tat ihnen den Gefallen mit innerem Widerstreben, worauf alle in lautes Gelächter ausbrachen. Insgeheim wünschte ich mir aber ein Schwesterchen.
Der Zuwachs wurde mir und meinem Bruder am Morgen nach der Geburt gezeigt. Wir warfen im Schlafzimmer einen kurzen Blick darauf, dann gingen wir wieder unseren Beschäftigungen nach.
Wie mein Bruder und ich wurde Elisabeth nicht von unserer Mutter betreut, sondern von Hausmädchen und Putzfrauen, aber auch mein Vater kümmerte sich sehr um sie, sobald er zu Hause war. Unsere Schwester störte meinen Bruder und mich zunächst nicht sehr. Wir gingen wie vorher unseren Interessen nach, spielten Fußball, turnten bei der DJK. Ich las meine Bücher, und nachmittags waren wir ein- oder zweimal in der Woche mit unserem Vater unterwegs, wenn er Patienten besuchte, von denen wir immer eine Süßigkeit bekamen.
Besonders mittwochs wollten wir immer mit, wenn er am Ende seiner Besuchstour Berta P. in B. besuchte, deren Mann eine Gastwirtschaft mit Tankstelle betrieb. Während mein Vater ein Bier und einen Steinhäger trank, bekamen wir Limonade und durften am Automaten spielen.
An einem dieser Nachmittage erfuhr ich zum ersten Mal Todesangst. Ich saß mit meinem Vater, dem Wirt Franz und dem Vertreter einer Getränke-Firma am Stammtisch im Gastraum, als plötzlich die Eingangstür aufgestoßen wurde und Robert van A. hereinkam.
Kaum hatte er den Vertreter erblickt, wurde sein Blick stier und Hals und Kopf schwollen ihm an: Er hatte die rote Krawatte gesehen, die der unglückliche Mensch trug. Die Ortsansässigen wussten, dass die Farbe rot den Bauer „wild“ machte. Der offensichtlich stark angetrunkene, als gewalttätig bekannte Mann zog ein Jagdmesser und ging laut brüllend auf den unglücklichen Vertreter zu.
Mein Vater hatte mich sofort unter den Tisch geschoben, als er die Situation erkannte. Ich glaubte deshalb, ich sei die Ursache für den Zorn des Mannes und fürchtete, der Mann wolle mich umbrigen.
Unter dem Tisch hörte ich, wie sich Franziska, die Tochter des Wirts, dem Angreifer entgegenwarf und heftig beiseite gestoßen wurde. Es folgte der flehentliche Ruf des Vertreters: „Bitte nicht! Bitte nicht!", dann Gebrüll. Im Gastraum wurde es jetzt totenstill. Neben dem Tisch, unter dem ich kauerte, fiel die abgeschnittene rote Krawatte zu Boden.
Als wir älter waren, bot uns unser Vater eine besondere Attraktion: er kaufte ein Luftgewehr und hängte in seiner Praxis einen Kugelfang auf. Dort schoss er mit uns über eine Distanz von ca. 6-7 Metern auf Pappscheiben. Dabei zeigte sich, dass mein Bruder Wolfgang besser schoss als ich, was mich ärgerte: Ich wollte auch so ein guter Schütze sein wie Old Shatterhand, der beste von allen.
Es blieb nicht beim Schießen auf Scheiben. Bald wurden auch die Spatzen, Tauben und Amseln im Nussbaum im Hof zu unseren Zielen, dann die Mäuse, die in der alten Scheune neben der Praxis in Scharen umherliefen.
1953 begann mit meinem Eintritt in das Stifts-Progymnasium in X. ein neuer Lebensabschnitt. Innerhalb von sechs regulären Schuljahren konnten die Schüler dort die ‚Mittlere Reife‘ erlangen. Wer das Abitur anstrebte, musste anschließend auf ein vollausgebautes Gymnasium wechseln, das eine neunjährige Schulzeit vorsah.
Das Progymnasium in X. war eine reine Knabenschule. Ihm angeschlossen war das Norbertheim, ein kirchliches Pensionat für Jungen, deren Familien im Krieg aus den deutschen Ostgebieten vertrieben worden waren oder die in prekären Verhältnissen lebten.
Auf Empfehlung der Grundschule wurde ich am 1. April Sextaner. Unsere Klasse war ungewöhnlich groß, da hier Schüler zweier Jahrgänge aus X. und den umliegenden Dörfern zusammenkamen – ergänzt um die entsprechenden Altersgruppen aus dem Norbertheim.
Wir wurden alphabetisch in drei Bankreihen gesetzt. Mit dem Anfangsbuchstaben B saß ich in der ersten Reihe – ein großer Vorteil, denn so war ich nah an Tafel und Lehrer und wurde nicht durch den Schabernack der anderen abgelenkt.
Nicht alle neuen Fächer lagen mir. Dazu zählten Erdkunde – wie Geographie damals hieß –, Geschichte, Kunst und Mathematik. Von Natur aus bin ich eher ein assoziativer als ein logisch denkender Geist. Mit der Vergangenheit konnte ich wenig anfangen; wichtiger erschien mir die Zukunft. Für künstlerische und handwerkliche Tätigkeiten fehlten mir sowohl Begabung als auch Interesse. Dagegen war Musik mein Lieblingsfach; auch Deutsch und Latein mochte ich, später ebenso Griechisch und Englisch.
Ein Klassenkamerad prägte meine Entwicklung in den folgenden Jahren besonders: Peter St. Er konnte nicht nur gut zeichnen und malen, sondern war auch musikalisch. Von ihm erhielt ich entscheidende Impulse, die Entwicklungen in Gang setzten, welche mein ganzes Leben beeinflussten.
Die Zeit am Progymnasium brachte Erfahrungen, die mich prägten: Manche formten meine Persönlichkeit sogar dauerhaft.
Es waren die Jahre der Pubertät – der Auflehnung gegen Autoritäten, die sich bei mir nicht nur gegen die Eltern, sondern besonders gegen die Kirche richtete.
Die wichtigste Veränderung war die Herausbildung einer auf Begehren basierenden Sexualität aus einer zuvor nur wolkigen und unscharfen Erotik. Die Frau wurde zum Objekt der Begierde, der Drang verlangte immer heftiger nach praktischem Vollzug.
Nach Aussage unserer Religionslehrer – allesamt katholische Priester – war Selbstbefriedigung eine schwere Sünde. Die Folgen schilderten sie drastisch und doch vage: Sie könne zu einer Schrumpfung des Rückenmarks führen. Was das bedeutete, konnten wir uns nicht vorstellen. Ebensowenig verstanden wir ihre Behauptung, Enthaltsamkeit verleihe einem Mann die Kraft, die man später in der Ehe benötige. Was wir stattdessen deutlich spürten, war die Macht der Natur – und diese gewann zunehmend die Oberhand.
Eng mit dieser Entwicklung verknüpft war meine wachsende Distanz zur katholischen Kirche – ja die Kritik an Religion im Allgemeinen. Mein inbrünstiger Kinderglaube wich einer Weltanschauung, in der zunächst die katholische Religion, später die Religion überhaupt, keinen Platz mehr hatte.
Die Abkehr begann mit dem Spott über die Akteure des Kirchenbetriebs. Schon früh hatte ich meinen Freunden aus Balzacs Tolldreisten Geschichten vorgelesen. Bald überboten wir uns gegenseitig im Spott über die ‚Schwarzen Vögel‘ – die Pfaffen – und die ‚Schwarz-weißen Vögelchen‘ – die Nonnen – sowie das sakrale Brimborium der Messe. Einer von uns sagte einmal: ‚Ich habe keine Lust mehr, das Blut Christi zu trinken.‘
Doch so einfach, wie es im Rückblick klingt, war es nicht. Ich besuchte noch lange sonntags die Messe um elf, ging aber immer seltener zur Beichte. Die Loslösung vom Glauben bereitete mir manchmal geradezu groteske Schwierigkeiten. So hatte ich lange Hemmungen mit dem Fluchen: Während meine Kameraden Wörter wie ‚Scheiße‘ oder ‚Verdammt‘ längst selbstverständlich benutzten, mied ich sie beharrlich.
In meiner Abiturarbeit im Fach Deutsch – Thema: ‚Wie lässt sich in einem Zeitalter des Kollektivismus die eigene Persönlichkeit bewahren?‘ argumentierte ich - nicht aus Überzeugung, sondern aus taktischem Kalkül — mit Gott. Ich hoffte auf eine bessere Note. Tatsächlich war die Abkehr von der katholischen Religion zu diesem Zeitpunkt längst abgeschlossen.
• Zusammenfassend waren die wesentlichen Veränderungen meiner Entwicklungsjahre:
• Die schrittweise Loslösung von elterlicher Autorität
• Die bewusste Abkehr vom Katholizismus
• Erste Begegnungen mit Alkohol und Zigaretten
• Die Entdeckung der Sexualität in Bezug auf das weibliche Geschlecht
• Die Herausbildung meiner Vorlieben für Sprachen und Physik
• Die oft mühsame Entwicklung eines literarischen Geschmacks durch die Auseinandersetzung mit „Pflichtlektüren“
• Die Erweiterung meines musikalischen Horizonts – von der Klassik über Blasmusik bis hin zum Jazz – sowie das Erlernen neuer Instrumente wie Posaune und Saxophon
Im Schuljahr 1959/1960 war ein Schulwechsel erforderlich, da der Ausbau des Progymnasiums in X. zu einem vollwertigen Gymnasium noch nicht abgeschlossen war. Wie bereits die meisten Schüler der vorhergehenden Jahrgänge wechselte auch ich mit zahlreichen Klassenkameraden an das Friedrich-Spee-Gymnasium in G., ebenfalls ein Knabengymnasium.
Drei Jahre war ich „Fahrschüler“. Morgens um sieben fuhr der Zug von X. nach A., dann weiter mit dem Bus nach G. Die Fahrt dauerte etwa eine Stunde, sodass wir je nach Unterrichtsplan zwischen zwei und vier Uhr nachmittags zurückkamen. Im Bus waren Gesangseinlagen beliebt. Unser Favorit war „Ja, im Bus da sind die Schüler, die machen ihren Schaffner kalt“ zur Melodie von „Ja, im Wald da sind die Räuber“. Die Busfahrer haben sich dazu sicher ihren Teil gedacht.
In X. war die Klasse nur für die Fächer Französisch und Griechisch geteilt, in G. gab es für jeden Zweig eine eigene Klasse: die A für die „Griechen“, die B für die „Franzosen“.
Die Integration in die neue Klasse verlief für uns „Griechen“ reibungslos. Unser Wissensstand war in allen Fächern auf dem gleichen Niveau wie in der Klasse in G., in die wir kamen.
Ein wichtiges außerschulisches Ereignis nach dem Wechsel war ein Tanzkurs, in dem Schüler der 8. Klasse unseres Gymnasiums und Schülerinnen der 7. Klasse des Mädchengymnasiums zusammenkamen. Der Unterricht in klassischen Gesellschaftstänzen fand wöchentlich im Saal einer Kneipe statt. Dort stand auf jeder Seite eine lange Stuhlreihe, eine für die „Herren“, die andere für die „Damen“.
Als ich 1961 an dem Tanzkurs teilnahm, waren deutlich mehr Herren im Saal als Damen.
Der Tanzlehrer zeigte mit seiner Partnerin zunächst die korrekte Grundstellung und führte die Schritte des Tanzes vor. Dann waren die Schüler an der Reihe. Auf ein französisches Kommando stürmten die Jungen quer durch den Saal zu den Mädchen, um eine Partnerin aufzufordern. Es herrschte chaotisches Durcheinander, da jeder sich von uns bereits vorher eine ausgesucht hatte und schnell bei ihr sein wollte, bevor ein anderer sie ihm wegschnappte.
Es wird niemand verwundern, dass die hübschen Mädchen immer mehrere Verehrer hatten, während die „Mauerblümchen“ warten mussten, bis sich erfolglose Kandidaten ihnen zuwandten. Die „Schönen“ konnten unerwünschte Partner nur schlecht ablehnen und mussten gute Miene zum bösen Spiel machen, wenn ein unmusikalischer Trottel sie aufforderte und ihnen ständig auf die Füße trat. Doch auf diese Weise bekamen am Ende auch die Mauerblümchen, wenn sie Glück hatten, einen attraktiven Partner.
Hatte jeder eine Partnerin gefunden, erklang Musik, und der Tanz begann. Der Lehrer rief laut die Bewegungen aus, etwa „eins und zwei und rechts“. Während die Paare auf der Tanzfläche mühsam Rhythmus und Schritte koordinierten, blieben acht bis zehn Jungen übrig, die auf ihren Stühlen auf eine neue Chance beim nächsten Tanz warten mussten.
Anfangs beteiligte ich mich halbherzig am Gedränge Richtung der „Weiber“. Wie alle wollte ich eine der Hübschen ergattern, war aber nicht zielstrebig oder schnell genug. So stand ich oft als Verlierer am Rand der Tanzfläche und wartete auf die nächste Runde.
Ich war nicht der einzige, der keine Lust mehr auf diese blöde Jagd hatte. Bald hatte sich eine Gruppe gebildet, die sich in die Kneipe zurückzog, sobald im Saal der Tanz begann. Wir saßen gemütlich bei einem Bier an der Theke und brüllten, wenn wir die Kommandos des Tanzlehrers hörten: „Eins und zwei und Prost!“
Nach dem Abschlussball trafen wir uns gelegentlich mit den Mädchen aus dem Kurs zum Fünf-Uhr-Tanztee in einem Lokal an der Niersbrücke. Eine kleine Blonde, Gudrun, hatte mein Herz erobert. Als sie auf meine Frage, welche Musik sie bevorzuge, „Cool Jazz“ antwortete, war ich hingerissen. Fortan nannten wir sie nur noch die „Cool-Jazz-Frau“.
Viele Jahre später traf ich sie zufällig mit ihrem Mann auf einer Geburtstagsfeier, ohne sie zu erkennen. Erst als sie mich auf unsere alten Zeiten ansprach, kam die Erinnerung zurück.
Die Schulzeit selbst verlief bis zum Abitur weitgehend ereignislos. Trotz schwacher Noten in Mathematik, Geographie und Geschichte gehörte ich in unserer Klasse zu den besseren Schülern.
Die Abiturprüfungen fanden im Frühjahr 1962 statt. Von den über 30 Schülern aus der Sexta in X. waren nur mein Freund Thomas und ich übriggeblieben. Mit 19 Jahren waren wir die jüngsten der etwa 20 Schüler, die zum Abitur antraten.
Die Abiturprüfungen bestanden aus einem schriftlichen und einem mündlichen Teil. Meine Hauptfächer waren Latein, Griechisch, Deutsch und Mathematik. Bei der schriftlichen Arbeit konnte man aus drei Themen wählen. In Latein und Griechisch wurden die zu übersetzenden Texte nach Diktat niedergeschrieben, was im Griechischen wegen vieler Homophone besonders schwierig war. Die Endnote ergab sich aus dem Durchschnitt der drei letzten Zeugnisse und der Abiturarbeit.
Als Prüfungsfach in den Nebenfächern wählte ich Musik. Schüler, die wie ich die Note „sehr gut“ hatten, mussten bei der mündlichen Prüfung ein Stück auf einem Instrument ihrer Wahl vortragen.
Unser sanfter Musiklehrer „Moses“ ließ mir bei der Auswahl des Vortragsstücks freie Hand und bat mich erst wenige Tage vor der Prüfung, es ihm vorzuspielen. Ich hatte ein Solostück für Posaune gewählt, dessen Schwierigkeitsgrad ich völlig unterschätzt hatte. Was ich ihm präsentierte war gelinde gesagt miserabel. Das war schlicht und einfach nicht aufführungsreif.
Der Auftritt vor dem Lehrerkollegium blieb mir aber erspart, da „Moses“ sich am Prüfungstag krankmeldete und das Vorspiel ausfiel. Es war wohl eine „taktische“ Krankheit, denn mein Auftritt hätte auch ihn in Verlegenheit gebracht, da die Abiturnote „sehr gut“ kaum zu rechtfertigen gewesen wäre. Ich erhielt sie dennoch – ungeprüft.
Mein „Zeugnis der Reife“ trägt das Datum 8. Februar 1962. Die meisten aus unserer Klasse entschieden sich für ein Studium an der Universität, um einen akademischen Beruf zu ergreifen. An diesem Tag wurden überwiegend künftige Gymnasiallehrer, Mediziner, Juristen und sogar zwei Theologen ins Leben entlassen.
Meine eigene Berufswahl war durch die Familie längst vorgegeben: Ich sollte Medizin studieren, wie mein Vater und mein Onkel. Darüber dachte ich wenig nach – es war einfach so. Nach Praktika im Krankenhaus in den Ferien gefiel mir der Arztberuf gut, besonders die Arbeit der Chirurgen.
Im letzten Halbjahr vor dem Abitur entwickelte ich, angeregt durch Bücher wie „Totem und Tabu“ von Sigmund Freud, ein starkes Interesse an Psychologie. Mit dem Studium dieses Fachs glaubte ich, meine innere Unsicherheit überwinden zu können, die ich in Gesellschaft durch kräftigen Bierkonsum und auffälliges Verhalten zu überspielen versuchte.
Im Sommer 1962 begann ich mein Medizinstudium in Freiburg im Breisgau.
Warum Freiburg? Mein Vater hatte dort studiert und schwärmte stets von der schönen Landschaft und den guten badischen Weinen. Auch mein Freund Thomas wählte aus Familientradition Freiburg für sein Mathematikstudium. Zudem war ich dort weit weg von zu Hause und konnte endlich ein eigenes Leben beginnen.
Das Studium
Zeit: Mai 1962 bis Ende 1968
Orte: Freiburg, Köln, München
Freiburg
Über verwandtschaftliche Beziehungen meiner Mutter hatte ich ein Zimmer mit Frühstück gefunden.
In den ersten Wochen ging ich regelmäßig in die Pflichtvorlesungen, mein Eifer ließ aber nach, als ich in den KStV Urach eingetreten war, eine Verbindung, in der mehrere Studenten vom Niederrhein aktiv waren. An mir hatte die Verbindung besonderes Interesse, weil ich Klavier spielte.
Ich spielte jetzt bei Festen die Studentenlieder wie früher in der Schülerzeit, und einige Jazz-Standards hatte ich auch noch drauf, die immer gut ankamen. Nach der Aufnahme in einer feierlichen Prozedur waren wir „Füxe“, wie in alten Zeiten die Handlanger der höheren Chargen. Unser Stammlokal war „Sprich’s Weinstuben“, wo ich einmal auf der Toilette verprügelt wurde, weil ich einen anderen Burschenschaftler beleidigt hatte.
Gestählt am Stammtisch des „Hofs“ waren Thomas und ich nicht nur trinkfest, sondern auch trinkfreudig, und hatten schon bald einen entsprechenden Ruf.
Zu Pfingsten holte ich in X. eine gebrauchte BMW Isetta ab, die mein Vater für mich gekauft hatte. Das Fahrzeug war mehr ein Kabinenroller als ein Auto, die Tür öffnete sich nach vorn, der Schaltknüppel, eine Metallstange, ragte aus der linken Wand der Kabine heraus, und außer dem Fahrer gab es auf der Sitzbank nur Platz für einen weiteren Mitfahrer.
Nach den Feiertagen machte ich mich auf den Rückweg nach Freiburg. Ich fuhr morgens um vier los, bereits um fünf blieb ich auf der Autobahn von Wesel nach Oberhausen liegen. Die Schraube, die den Benzinschlauch am Tank hielt, hatte sich gelöst. Auf den Autobahnen standen damals im Abstand von etwa 3 km Notrufsäulen, über die man die Pannenhilfe des ADAC erreichte. Zu dieser frühen Stunde waren aber die gelben Fahrzeuge des ADAC noch nicht unterwegs, und so musste ich warten.
Das Wetter war schön, und um mir die Zeit zu vertreiben, spielte ich ein wenig auf meiner Posaune, bis ich auf die Idee kam, die Schraube für den Benzinschlauch zu suchen, die sich ja irgendwo hinter mir befinden musste.
Ich fand sie tatsächlich nur wenige Schritte entfernt, als sie im Sonnenlicht aufblitzte. Ich schraubte den herabhängenden Benzinschlauch wieder an den Benzinschlauch, aber der Motor sprang nicht an, da die Batterie durch meine häufigen Startversuche schwach geworden war.
Inzwischen hatte der Verkehr zugenommen, und schließlich gelang es mir, einen Autofahrer anzuhalten, der mich anschob. Es war später Abend, als ich endlich in Freiburg ankam.
Für jede Studentenverbindung ist das Stiftungsfest der wichtigste Termin im Semester. Zur Eröffnung gab es obligat einen förmlichen Ball. Die Erstsemester, die in der Regel noch niemand kannten, den sie als Tanzpartnerin einladen konnten, bekamen vom sogenannten Damen-Major der Verbindung Adressen von jungen Frauen, die sich zu diesem Zweck zur Verfügung stellten. Es war Pflicht, sich vor dem Ball bei den Eltern vorzustellen, - selbstverständlich nüchtern - wie es spaßhaft hieß, ordentlich gekleidet und mit einem Blumenstrauß. So saß auch ich an einem Nachmittag mit der mir zugeteilten Tanzpartnerin und ihren Eltern im Wohnzimmer der Familie, gab artig Antwort auf die mir gestellten Fragen und verabredete den Zeitpunkt für das Abholen und die Rückkehr der Tochter, an deren Aussehen ich mich nicht erinnere. Nach dem Schlusstanz lieferte ich sie um halb elf wieder in allen Ehren zu Hause ab und ging dann zurück zum Fest, wo man inzwischen bei dem inoffiziellen Teil angelangt war. Die Krawatten und Jacketts wurden abgelegt und man konnte endlich den Abend genießen und natürlich waren am Schluss alle restlos betrunken.
Auf dem Kalender der „Uracher“ stand Sommersemester 1962 auch eine Weinprobe im Glottertal, und - inoffiziell - das Kirschenklauen im Kaiserstuhl, in Fortführung einer langen studentischen Tradition. Bezüglich des „Glottertälers“ hatte mich bereits mein Vater gewarnt, dass zu starker Genuss eine Lähmung des Ischiasnervs bewirkte, was von unseren älteren Verbindungsbrüdern bestätigt wurde: ab einer gewissen Menge könne man nicht mehr von seinem Platz aufstehen.
Zur Weinprobe fuhren wir in einem Kleinbus zu einem bekannten Weingut, wo ich einige Flaschen als Geschenk für meine Eltern kaufte. Das nächste Ziel des Tages war der legendäre „Goldene Engel“ in Unterglottertal, ein weithin bekanntes und besonders bei Studenten geschätztes Weinlokal. Die Tischplatten waren alte Eichenbohlen, in die ganze Generationen ihre Namen und Trinksprüche eingekerbt hatten.
Nach einiger Suche fand ich tatsächlich auch einen „B.“, aber auf diesem Brett war leider kein freier Platz mehr, deshalb kerbte ich meinen Namen anderswo ein.
Das Kirschenklauen folgte einem taktischen Schema: man startete in kleinen Gruppen am frühen Sonntagmorgen Richtung Kaiserstuhl, wo sich außer Weinbergen viele Obstplantagen befanden. War eine günstige Stelle gefunden, blieb einer von uns als Beobachtungsposten an der Straße, die anderen füllten hastig ihre Körbe in der Plantage, und dann machten sich alle schnell aus dem Staub. Das wurde an mehreren Stellen so lange wiederholt, bis die Beute groß genug war.
Der Tag fing gut an, verlief aber leider nicht so geplant. Ich war mit einem Verbindungsbruder in meiner Isetta bei gutem Wetter am Morgen gestartet und wir hatten bis Mittag bereits gut geerntet. Auf dem Heimweg raste ich mit Vollgas eine Gefällstrecke hinab, als es plötzlich die Isetta mit einem knirschenden Geräusch ausrollte und nichts mehr ging. Mein technisch versierter Begleiter stellte fachmännisch einen „Kolbenfresser“ fest. Den Ölstand hatte ich nie kontrolliert, der Motor war hinüber.
Ein Höhepunkt dieser drei unbeschwerten und sonnigen Monate war der Sommerball der Universität Freiburg im Juli.
In meiner Erinnerung flanierte ich am Abend durch die von Fackeln beleuchteten Räume, in denen hübsche Studentinnen vorüberhuschten, miteinander flüsternd oder übermütig kichernd; ich hörte lange der Band des damals noch jungen Saxophonisten Klaus Doldinger aus Düsseldorf zu; in einem anderen Saal spielten einige schon in die Jahre gekommene Musiker aus Amerika originalen Swing; als ihr Gast trug eine junge deutsche Sängerin mit fantastischem Feeling Balladen vor, mitten auf der abgedunkelten Bühne nur von einem Spot beleuchtet.
Seit jenem schon lange zurückliegenden Abend in einem Jazzkeller in Krefeld, zu dem unser Pianist Rudolf R. die „Cool Messengers“ eingeladen hatte, bei denen ich Saxophon spielte, hatte ich nicht wieder Jazzmusiker live auf der Bühne erlebt.
Und das Studium, wird sich ein ungeduldiger Leser vielleicht fragen?
Meinem Studienbuch entnehme ich, dass ich Botanik, organische Chemie, Physik und Anatomie belegt hatte. An die Vorlesungen und Kurse, die Professoren und Dozenten, erinnere ich mich aber nicht mehr.
Ich war nur selten in den Hörsälen, hatte nur sporadisch an den obligaten Kursen teilgenommen, und zu den Abschlussprüfungen am Ende des Semesters trat ich gar nicht erst an.
Für eine Fortsetzung des Studiums in Freiburg war das fatal, da die Folgekurse im Wintersemester nur belegen konnte, wer die Einführungskurse im Sommer bestanden hatte. Deswegen musste ich Freiburg verlassen und an einer anderen Universität weitermachen. Ich entschied mich für Köln, aber nur deshalb, weil ich dort im Wintersemester die verpassten Kurse nachholen konnte.
Köln
Der Wechsel von Freiburg nach Köln war ein Wechsel vom Paradies in die Hölle, aus dem sommerlichen, fröhlichen, von dauernden Festen geprägten badischen Städtchen ins kalte und düstere Rheinland.
Den Dialekt der Menschen, die typisch „kölsche“ Wesensart mit ihrem gewöhnungsbedürftigen Humor und auch das Bier und die lokalen Gerichte mochte ich von vornherein nicht.
Ich wohnte zunächst in einer Bude in der Altstadt. Abends ging ich anfangs auf ein Bier in eine Kneipe um die Ecke.
Dort verkehrte ein Stammgast, der es liebte, sein Allgemeinwissen mit Quiz-Fragen zu prüfen. Durch ihn lernte ich zum ersten Mal die Schlitzohrigkeit des typischen „homo coloniensis“ kennen.
So fragte er mich einmal, wohl in der Hoffnung, mich hereinlegen zu können: „Ist das Licht eher einem Fluss vergleichbar oder einem Maschinengewehr?“ Ich enttäuschte ihn, da ich natürlich wusste, dass Licht aus Teilchen besteht.
Das Gespräch kam auch auf die aktuellen Karnevalsschlager, und ich sagte, dass die Komposition eines solchen Schlagers ein Kinderspiel sei. Für 10 Mark könne ich ihm in einer Woche einen liefern. Er ging auf den Handel ein und ich schrieb aus meinen alten Blasmusik-Kompositionen einen Walzer zusammen, den ich in die Kneipe brachte. Als ich die 10 Mark für das Manuskript verlangte, lachte er mich aus, klopfte mir auf die Schulter und sagte in dem typischen kölschen Dialekt, das habe er doch gar nicht ernst gemeint.
Ich hatte meine erste Lehre über den Charakter des Kölners erhalten und habe sie nie vergessen.
Die Wohnung in der Kölner Altstadt war kostspielig. Nach einigen Wochen fand ich ein preiswertes Zimmer in Frechen, etwa 10 km westlich von Köln-Lindenthal, wo die Institute der medizinischen Fakultät lagen.
Das Zimmer kostete 50 Mark im Monat inklusive eines Frühstücks. Es war winzig, nur durch eine Schiebetür vom anschließenden Wohnzimmer getrennt, und lag unmittelbar an der Mühlengasse, einer kleinen Seitenstraße.
Die Ausstattung war mit einem Waschbecken, dem Bett und einem kleinen Schreibtisch spartanisch, eine eigene Toilette hatte ich nicht.
In Frechen erfuhr ich ein weiteres Mal die Verschlagenheit der Einheimischen, die diese selbst lustig empfinden, für die Opfer dieses merkwürdigen Humors aber alles andere als das ist. Auch diesmal fing es in einer Kneipe an, in der ich abends mein Bier trank.
Einmal in der Woche traf sich hier ein Kegelklub, und im Laufe der Zeit wurde ich mit einzelnen Mitgliedern bekannt. Sie luden mich ein, als Gast an einem Kegelabend teilzunehmen, und obwohl mich Kegeln nie interessiert hatte, ging ich hin.
Als erstes war natürlich ein Einstand fällig, und irgendwann im Lauf des Abends war auch die Reihe an mir, eine Runde zu schmeissen. Am Ende hatte ich eine saftige Rechnung zu bezahlen, und da meine finanzielle Ausstattung nie üppig war, wog diese Ausgabe schwer. Das war aber noch nicht das Ende.
Als ich den Chef des Kegelklubs das nächste Mal in der Kneipe traf, präsentierte er mir eine Rechnung über ca. 20 DM. Es war das Strafgeld dafür, dass ich gegen Regeln des Clubs verstoßen hatte, die ich allerdings gar nicht kannte. Jedes „böse“ Wort, wie „Scheiße“, „Verdammt“ o. ä., das ich an diesem Abend ausgesprochen hatte, war gezählt worden und bedeutete eine Strafzahlung von 10 Pfennig. Die zwanzig Mark hatte ich nicht und mir wurde jovial und mit geheucheltem Verständnis ein Abstottern auf Raten genehmigt. Man wird verstehen, dass ich aufgrund solcher Erlebnisse bid heute weder den Dialekt noch die typische „kölsche“ Art mag.
Mein Studium dagegen kam jetzt in Fahrt. Ich lernte eifrig und alles verlief von nun an problemlos. Das Vorphysikum, die naturwissenschaftliche Vorprüfung, bestand ich im Juli 1963 mit einer guten Note.
Im Wintersemester 1963/64 lernte ich Armin E. kennen. Wir arbeiteten an derselben Leiche, er oben, ich am Bein. Armin wohnte in Düsseldorf, wo ich ihn manchmal besuchte, aber eine herzliche, auf emotionaler Zuneigung basierende Freundschaft entwickelte sich zwischen uns nicht.
Er war ein düsterer, verschlossener Typ mit dunklen Haaren und schwarzem Vollbart, intelligent, lernte leicht, beobachtete scharf, aber unauffällig, sprach nicht viel, war ein Einzelgänger wie ich. Im Rückblick erinnert er mich an den undurchsichtigen Jesuiten Naphta aus Thomas Manns „Zauberberg“.
Er erzählte mir, dass er E-Gitarre und Schlagzeug spielte, und es stellte sich heraus, dass er auch Jazz mochte, Band-Erfahrung hatte er aber nicht.
Im Spätherbst 1964 lud Armin mich mit einigen der ehemaligen „Cool Messengers“ zu einer Session ins Haus seiner Großeltern in einem Dorf im Westerwald ein.
Seine Großeltern waren ein liebenswürdiges, bescheidenes altes Ehepaar, das uns freundlich aufnahm. Der Opa, ein ehemaliger Diplom-Ingenieur, neigte zu ulkigen Wortverdrehungen. So nannte er zum Beispiel sein Moped immer „Mepott“. Die Oma war eine unscheinbare kleine Frau, still und zurückhaltend, aber mit hellem Kopf. Wir beide mochten uns auf Anhieb.
Armin hatte kein eigenes Schlagzeug, und so packten wir unser Drumset in meinen dunkelgrünen Citroen 2 CV, den Nachfolger meiner Isetta. Auf die Heckklappe hatten wir mit goldenen Buchstaben gesprüht: „Jazz goes to Western Wood“. Musikalisch war die Session nicht ergiebig. Sie endete, wen wundert’s, in einer riesigen Sauferei, die noch lange im Dorf Gesprächsstoff war.
Armin und ich hatten beschlossen, uns gemeinsam auf die ärztliche Vorprüfung, das Physikum, vorzubereiten, das am Ende des Sommersemesters 1965 anstand. Der Stoff war umfangreich und die Chemie, mit der er kein Problem hatte, fiel mir besonders schwer.
Für mich war die Zusammenarbeit mit ihm auch deshalb vorteilhaft, weil er energisch darauf bestand, bestimmte Kapitel zu festgelegten Terminen abzuschließen. Ohne seinen ständigen Druck hätte ich das wahrscheinlich nicht geschafft. Die letzten Wochen vor den Prüfungen verbrachten wir gemeinsam bei seinen Großeltern, wo wir von der Oma liebevoll verpflegt wurden.
Das Physikum bestanden wir im August 1965 im ersten Anlauf. Anschließend blieb ich noch einige Zeit allein bei seinen Großeltern, um ein Praktikum auf der chirurgischen Abteilung im Krankenhaus der nahe gelegenen Kreisstadt H. zu machen.
Die Zeit dort habe ich in bester Erinnerung. Der Oberarzt, dem ich zugeteilt war, war ein Könner seines Faches und auch menschlich sehr angenehm, was man nicht von allen Chirurgen sagen kann. Er setzte mich bei Operationen als Assistenzarzt ein und ich habe auf diese Weise sehr viel gelernt, das mir auch später von großem Nutzen war.
München
Im Wintersemester 1965/66 wechselte ich nach München, um dort mein Studium abzuschließen. Ich kam jetzt in eine neue, bessere Welt, nicht nur was mein Lebensgefühl betraf, sondern auch hinsichtlich des Studiums. Die Menschen hier waren völlig anders als Rheinländer und zu dieser Zeit gab es in Schwabing noch ein echtes Studentenleben.
Nach drei Monaten als Zwischenmieter in einer Schwabinger Wohnung musste ich eine neue Bleibe finden. Der allgemeine Studentenausschuss (ASTA) unterstützte die schwierige Zimmersuche der Studenten, indem er wöchentlich freie Zimmer verloste. Die Aussicht, auf diesem Weg etwas zu finden, war wegen der großen Nachfrage nur gering, aber ich hatte Glück. Nach einigen erfolglosen Durchgängen fiel das Los auf mich und ich bekam ein Zimmer in der Watzmannstraße 4 in Giesing.
Die Bude lag über einer Werkstatt, die Toilette war ein Verhau außerhalb des Zimmers. Aber es war separat, die Verbindung zu den Kliniken war günstig und die Werkstatt störte mich nicht, weil die Arbeit erst morgens um acht begann und nachmittags um fünf Feierabend war; an den Wochenenden war es unten völlig ruhig.
Dort wohnte ich von Dezember 1965 bis Ende 1968.
München war Ende 1965 noch wie eine zu groß geratene Kleinstadt, einige Stadtteile hatten noch dörflichen Charakter. Das Bier war preiswert, die Halbe Dunkles kostete in Schwabing 50 Pfennig und das Essen war für Studenten erschwinglich. Die Straßenbahnen wurden durch Drehen einer Kurbel beschleunigt und abgebremst; die Milch, die ich mir täglich in einem Laden holte, wurde von Hand in die Milchflasche gezapft. (An das Schild „Es ist untersagt, auf den Boden zu spucken.“ an der Wand des Ladens erinnere ich mich noch heute gut.)
Für mein Studium in München wurde Wolfgang F. ähnlich wichtig, wie in Köln Armin E. Es war aber jetzt nicht nur eine Zweckgemeinschaft zum gemeinsamen Lernen, sondern es entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft.
Wolfgang war in L., nahe der Schweizer Grenze, aufgewachsen. Nicht nur äußerlich ein völlig anderer Typ als ich, war er mir mit seinem praktischen Realismus, seiner Energie und seiner großen Ausdauer überlegen. Unsentimental und hart gegen sich selbst verlor er bei allem, was er anfing, nie das Ziel aus den Augen und verfolgte es konsequent, bis es erreicht war.
Ich verdankte Wolfgang sehr viel, denn ohne seine unerbittliche Konsequenz bei der Vorbereitung für das Staatsexamen wäre ich wahrscheinlich nicht glatt durchgekommen.
Mein Klassenkamerad Thomas F. und Wolfgang teilten sich ein Zimmer in einer Wohnung in der Theresienstraße 45, nachdem sie die ersten Wochen in Wolfgangs VW-Käfer übernachtet hatten. In den anderen Zimmern hausten einige Bolivianer, die in einer Münchener Chemiefabrik arbeiteten.
Mit Josè Candiotti, einem von ihnen, kamen wir in näheren Kontakt. Äußerlich eine Mischung aus Indio und Latino, war er ein netter, aber schlitzohriger Typ, der leicht schielte. Die Lebensart der Südamerikaner, ihre Musik und ihre Sprache gefielen uns. Wir lernten spanische Redewendungen und Flüche, aber auch neue Karten- und Würfelspiele. Was die Flüche und Beschimpfungen betraf, war für mich deren blasphemischen Radikalität neu. („Ich sch... auf die Möse deiner Mutter!“ oder „Bei der Möse der Gottesmutter!“). Dagegen waren unsere eigenen Flüche („Gottverdammich“, „Verdammte Scheiße“) harmlos.Wir trafen uns regelmäßig, für ein Spielchen, meist Poker und ein uns neues Spiel mit zwei Würfeln, das die Bolivianer „Graff“ oder „Passo ingles“ nannten („Craps“ in den USA).
Eine Bereicherung war die südamerikanische Musik für mich, die an den Pokerabenden abgespielt wurde. Ich mochte sie bald ebenso gern wie meinen Jazz, und auch heute noch gehörte der brasilianische Bossa zu meinen Lieblingsstilen in der Musik.
Angeregt durch die Spielabende, bei denen ausschließlich Glücksspiele um Geld gespielt wurden, waren Wolfgang und ich auf die Idee gekommen, einmal in die Spielbank nach Bad Wiessee zu fahren, um Roulette zu spielen. Dabei ging es uns nicht um den großen Gewinn, wir wollten vor allem die Atmosphäre eines echten Kasinos erleben, wie Dostojewski sie in seinen Romanen so eindrücklich beschreibt.
Die Regeln des französischen Roulette waren einfach und wir studierten zur Vorbereitung zunächst verschiedene Spieltaktiken. Schließlich war es soweit.
Der Eintritt kostete 20 Mark, für uns keine geringe Summe.
An unserem ersten Abend im Casino fühlten wir uns wie Akteure in einem Thriller. An der Bar saßen elegante Männer und Frauen beim Sekt, am Kopf der Tische thronte der „Chef de la table“ auf seinem hohen Stuhl und beobachtete das Spielgeschehen. Zwei Croupiers rechts und links neben ihm machten die Einsätze für die Gäste, harkten die verlorenen Chips zusammen und zahlten die Gewinne aus.
Die manchmal sehr hohen Einsätze gaben die Spieler, nicht selten unscheinbare, eher schäbig gekleidete Männer und Frauen, mit für uns damals noch kryptischen französischen Kommandos. Sie schienen spontan zu setzen, ohne ein erkennbares System, scheinbar aus einer bloßen Laune heraus.
Wolfgang und ich hatten verabredet, aufzuhören, falls wir entweder den Eintritt plus ein Getränk an der Bar gewonnen hatten oder unser Spielgeld (je 50 DM) verloren war. Am ersten Abend ging die Rechnung zu unseren Gunsten auf. Wir beschlossen deshalb, regelmäßig hinzufahren. Es lief aber in der Folge nicht immer so gut wie beim ersten Mal und wir fuhren nicht selten mit leeren Taschen zurück nach München.
Schon in Köln war ich oft ins Kino gegangen, und auch in München schaute ich mir immer die neuen Filme an, viele sogar mehrmals, etwa Stanley Kubrick’s „Odyssee 2001“.
Die Filme von Godard, Rivette, Lelouche, Chabrol, Truffaut,
der „Nouvelle Vague“ aus Frankreich, kamen damals auch in Deutschland in die Kinos und begeisterten mich. Meine Lieblingsschauspieler waren Alain Delon („Der eiskalte Engel“), Jean-Louis Trintignant, Marcello Mastroiani, Lino Ventura, J.-P. Belmondo und Michel Piccoli. In diesen Filmen sah und spürte ich das Lebensgefühl einer neuen, modernen Welt, einer Welt, die meine Welt war.
Das „Arri am Siegestor“ war ein Kino, wie geschaffen für einen armen Studenten. Man bezahlte nur einmal Eintritt, und konnte dann alle Filme des Tages anschauen, bis das Haus nach der letzten Vorstellung schloss.
Der Faschingsball der Universität wurde im Frühjahr 1966 im „Haus der Kunst“ veranstaltet. Es war märchenhaft: die riesigen Säle waren von Kunststudenten dekoriert worden, auf mehreren Bühnen spielten hervorragende Bands in unterschiedlichen Musikstilen, überall schwebten, schwammen, tippelten, tänzelten, huschten fantasievoll kostümierte Menschen, hübsche Frauen, smarte Männer herum.
Als ich durch die Räume schlenderte, fühlte ich mich selbst wie in einem Film. Wie beim Unifest in Freiburg, im Sommer vor vier Jahren, begeisterte mich vor allem die Musik: auf einer Bühne spielte Max Greger ein mitreißendes Saxophonsolo, in einem anderen Raum eine südamerikanische Band Bossa nova und Samba, aus einem Lichthof hörte man lupenreinen Dixieland.
Der Plan, eine Dissertation noch während meines Studiums zu schreiben, misslang. Ich hatte von einem Oberarzt der chirurgischen Poliklinik ein interessantes Thema bekommen und war voller Eifer an die Arbeit gegangen.
Es stellte sich aber bald heraus, dass mein „Doktorvater“ fast nie persönlich zu erreichen war und meine Betreuung schließlich einem Assistenten übergab, der die vereinbarten Besprechungstermine regelmäßig platzen ließ. (Heute vermute ich, dass der Typ meine bis dahin erarbeiteten Ergebnisse im Zuge seiner eigenen Habilitation für sich selbst verwertet hat.)
Nach etwa einem halben Jahr gab ich deshalb auf. Wie ich den Titel dann schließlich doch noch bekam, davon wird später die Rede sein.
Am Ende des Sommersemesters 1968 begannen die Vorbereitungen auf das Staatsexamen. Es waren mehr als zehn Fächer, die wir erarbeiten mussten, wobei große Fächer wie Chirurgie und Innere Medizin noch einmal in zwei bis drei Einzelprüfungen unterteilt waren. Zwischen den Terminen für die einzelnen Prüfungen blieb nur wenig Zeit zur Vorbereitung des nächsten Fachs.
Im schriftlichen Teil der Prüfungen musste eine handschriftliche Dokumentation über die klinische Untersuchung eines Patienten am Krankenbett, einschließlich Anamnese, Diagnose, Differenzialdiagnosen und Therapievorschlägen vorgelegt werden. Anschließend erfolgte die mündliche Befragung in Gruppen von jeweils vier Prüflingen über die ihnen zugeteilten Fälle und die wichtigsten Krankheitsbilder des betreffenden Faches.
Ende Dezember 1968 hatte ich die „Ärztliche Prüfung“, das medizinische Staatsexamen, mit der Gesamtnote „gut“ bestanden. Damit war mein Studium abgeschlossen und ich zog von der Watzmannstraße 4 in Giesing in die Elektrastraße 5 in Bogenhausen, wo meine Eltern Anfang Januar 1969 eine Einzimmer-Wohnung im sechsten Stock eines neu errichteten Hochhauses gekauft hatten.
Dieser Umzug war das äußere Zeichen, dass jetzt ein neuer Lebensabschnitt für mich begann.
Im Beruf
Zeit: 1.3.1969-1.2.1980
Orte: Höhenried, Deggendorf, Oberstimm, München, Davos, X.
Vom Anfang meines Studiums an war es mein Ziel, Chirurg in einer Krankenhausabteilung, vielleicht sogar einer Universitätsklinik, zu werden. Etwas anderes kam für mich nicht in Frage.
Wenn man mich fragte, welche Fachrichtung ich einschlagen wolle, antwortete ich, mein tägliches Gebet laute: „Herr, wann gibst du mir Skalpell und scharfen Löffel?“.
Die Chirurgen waren für mich die Helden der Medizin, Internisten nichts als Weicheier, eine Einschätzung, die ich aus heutiger Sicht bestenfalls als unreif bezeichnen kann. Praktika hatte ich jedenfalls vor Beginn des Studiums nur in den chirurgischen Abteilungen der Krankenhäuser gemacht.
Aber zunächst musste ich nach dem Staatsexamen die Approbation als Arzt bekommen. Voraussetzung dafür war die Ableistung einer sogenannten Medizinalassistentenzeit in den Fächern Chirurgie, Innere Medizin und Gynäkologie.
Höhenried
Im März 1969 trat ich meine erste Stelle als Medizinalassistent in der Klinik für Herz- und Kreislauferkrankungen in Höhenried am Starnberger See an.
Nach dem vorher Gesagten ist klar, dass ich keine große Begeisterung mitbrachte, es war reine Pflichtübung auf dem Weg zur Approbation.
Der Klinikchef Professor H., ein Österreicher, begrüßte mich am ersten Tag meines Berufslebens herzlich und stellte mich den anderen Ärzten vor.
H. hatte neben seiner Tätigkeit als Chefarzt der Klinik einen Lehrauftrag für Kardiologie an der Universität Innsbruck, wo er gelegentlich Vorlesungen hielt. Auf seinem Gebiet war er ein geachteter Spezialist und genoss wissenschaftliches Renommee.
Sein Führungsstil war autoritär, stützte sich weniger auf seine Stellung, sondern vielmehr vor allem auf seine Persönlichkeit, die eine natürliche, unverkrampfte Autorität ausstrahlte. In der Hierarchie der Klinik waren ihm zwei Oberärzte unterstellt, die ironischerweise sprechende Namen hatten: der eine hieß Milz, der andere Lepper („Milz“ und „Leber“).
Deggendorf
Nach einem halben Jahr in Höhenried brauchte ich Stellen für Chirurgie und Gynäkologie und hatte das Glück, im Kreiskrankenhaus Deggendorf in Niederbayern gleich für beide Fächer einen Platz zu finden, da der dortige Chefarzt noch eine Anerkennung für beide Bereiche hatte. (Diese doppelten Qualifikationen für leitende Ärzte gibt es heute nicht mehr).
Deggendorf liegt etwa 150 km von München entfernt und war damals kaum größer als X. Anfang September 1970 trat ich meine Stelle auf der chirurgischen und gynäkologischen Abteilung an.
Dem Chefarzt H. unterstanden zwei Oberärzte - eine ältere Chirurgin, die kurz vor der Pension stand, und ein Tscheche um die vierzig.
Der ruhende Pol der Abteilung war die Oberärztin, die aus Ostpreußen stammte und den Krieg als Chirurgin mitgemacht hatte, in dieser Zeit eine für Frauen ungewöhnliche Laufbahn. Ihr assistierte ich bei Operationen am liebsten.
Der Chef, ein genuiner Niederbayer, war ein guter Allgemeinchirurg und auch in gynäkologischen Operationen versiert, er wagte sich aber auch an Eingriffe, die er nicht beherrschte. H. neigte zu cholerischen Anfällen, die rasch abklangen, war aber keineswegs der Typ des rüpelhaften, vulgären Chirurgen, den ich bei meinen Praktika relativ häufig erlebt hatte. Im persönlichen Umgang hatte er gepflegte Manieren, eine gute Allgemeinbildung und spielte sehr gut Klavier.
Die geburtshilflich-gynäkologische Station war fest in der Hand der Hebammen, die ihr Geschäft verstanden. Von ihnen, nicht vom Chefarzt oder den Oberärzten, habe ich die grundlegenden Kenntnisse und Fertigkeiten in diesem Bereich gelernt, was mir bei meiner späteren Tätigkeit in vielen Situationen sehr hilfreich war.
Die Zeit in Deggendorf war die härteste, aber auch die lehrreichste Phase in meinem medizinischen Leben. Die Erfahrungen aus dieser Zeit waren für mein gesamtes späteres Leben als Arzt nützlich, insbesondere, wenn es darum ging, spontan Entscheidungen zu treffen oder zu improvisieren.
Als ich die Stelle dort antrat, wollte ich immer noch unbedingt Chirurg werden, als ich das Krankenhaus nach gut einem Jahr Ende September 1970 verließ, wollte ich das auf keinen Fall mehr.
Ich war manuell zwar nicht ungeschickt, der Chef und die Oberärzte hatten mich als Assistenten gern am Tisch, aber die für einen guten Chirurgen wichtigsten Eigenschaften, die traumwandlerische Sicherheit der Handgriffe, wie sie auch versierte Pianisten auszeichnet, das Bewahren der Ruhe auch bei Komplikationen, vor allem Ausdauer und Durchhaltevermögen, fehlten mir.
Schon während der Zeit in Deggendorf überlegte ich, welche andere Fachrichtungen ich einschlagen könnte. An der Pathologie, die mich sehr interessierte, war verlockend, dass man nicht ständig unmittelbar mit Patienten und ihrem Unglück konfrontiert wurde. Man musste niemanden therapieren, trösten, operieren; man musste niemand in den Tod begleiten, sich kein Gejammer anhören, Angehörige mussten nicht beruhigt werden.
Eine neue Perspektive ergab sich durch meiner Ehe mit Lilly W., meiner ersten Frau, die ich schon in Höhenried kennengelernt hatte, wo sie als medizinisch-technische Assistentin im EKG-Labor arbeitete. Sie litt an Neurodermitis, warum also nicht Dermatologe werden?
Das Fach hatte mir schon während des Studiums gut gefallen; ich hatte überwiegend mit jungen Menschen zu tun, die nicht an lebensbedrohlichen Erkrankungen litten; die Bereitschaftsdienste in der Klinik waren mit Sicherheit nicht so belastend wie in der Chirurgie; vor allem aber konnte ich meine Frau selbst behandeln!
Vor konkreten Schritten in Richtung Facharzt galt es aber, ein fast vergessenes Problem aus dem Weg zu räumen, das die einige Jahre dauernde Fachausbildung möglicherweise behinderte.
Einer meiner Kollegen in Deggendorf war zu einer Wehrübung eingezogen worden und berichtete, dass er dort Kollegen getroffen hatte, die durch die Einberufung zum Pflicht-Wehrdienst ihre Ausbildung zum Spezialisten unterbrechen mussten. Dieses Risiko wollte ich nicht eingehen und wandte mich deshalb an das Kreiswehrersatzamt in München, um möglichst bald meinen Wehrdienst ableisten zu können.
Bundeswehr
Im Oktober 1970 trat ich in München einen 18 Monate dauernden Pflicht-Wehrdienst an.
Er begann mit der Tauglichkeitsuntersuchung, der Einkleidung und der Aushändigung des Sturmgepäcks. Die Einkleidungsprozedur war bühnenreif: die „Gezogenen“, zu denen ich gehörte, wurden von einem Feldwebel nach Größe, Gewicht und Kopfumfang vermessen und erhielten nach dessen recht grober Einschätzung zwei Garnituren Uniformen mit den Rangabzeichen eines Hauptmanns aus dem Fundus, dazu Käppi und Mütze, sowie zwei Paar Schuhe, NATO-Unterwäsche und Kleinkram, unter anderem zwei große Taschentücher, „natograu“, die ich noch heute habe.
In den ersten sechs Wochen gab es eine Art Grundausbildung in München und Umgebung. Sie beinhaltete Lehrgänge und Übungen in Notfallmedizin, sowie Märsche im Gelände mit Karte und Kompass. Nach Abschluss der Grundausbildung wurde ich als Stabsarzt dem Luftwaffenausbildungsregiment 3 in Oberstimm bei Ingolstadt zugeteilt.
Der Leiter der Sanitätsstaffel war ein Oberstabsarzt, dem zur organisatorischen Leitung des Reviers ein Hauptfeldwebel, der „Spieß“, zur Seite stand. Die Sanitäter waren allesamt junge Männer im Pflichtwehrdienst, die nur eine rudimentäre fachliche Einweisung bekommen hatten.
Der Chef des „San–Bereichs“ war ein korpulenter Mann Mitte 40 mit Glatze.
Er begegnete uns, seinen Stabsärzten, mit einer gekünstelten, aufgesetzten Kollegialität. Fachlich schwach kannte er sich aber in sämtlichen Dienstvorschriften bestens aus. Die medizinische Behandlung in der Ambulanz überließ er völlig den gezogenen Sanitätsoffizieren.
Bei meinem Dienstantritt waren das nur zwei Ärzte: Max L., der einige Monate vor mir einberufen worden war, und ich. An meinem ersten Tag begrüßte mich Max und zeigte mir die Räumlichkeiten und die Geräte im Revier. Er stellte mich der Mannschaft vor, wobei er abschließend vielsagend fragte, wann ich meinen Einstand geben wolle. Ich versprach, bei nächster Gelegenheit ein Fässchen Bier und etwas zu essen zu spendieren, was lebhaften Beifall fand.
Das Mittagessen, das für alle Soldaten gleich war, nahmen wir im Offizierscasino ein.
In den eineinhalb Jahren, die ich in Oberstimm verbrachte, erlebte ich zahlreiche Anekdoten, die für ein abendfüllendes Bühnenstück reichen würden.
Ich will mich an dieser Stelle auf eine typische Episode beschränken. Zu den Aufgaben des Sanitätsbereichs gehörte außer der täglichen Sprechstunde auch die hygienische Kontrolle der Küche und die entsprechende Untersuchung der dort Beschäftigten. Beides musste zweimal pro Jahr durchgeführt werden. Diese Aufgabe behielt sich als eine der wenigen medizinischen Tätigkeiten, die er selbst übernahm, der Oberstabsarzt vor.
Als er einmal in Urlaub musste, musste ich einspringen. Da ich nicht wusste, was im Einzelnen dabei zu beachten war, befragte ich unseren Spieß dazu, der auch für die Verpflegung des Sanitätsbereiches zuständig war. Er hatte nicht nur beste Verbindungen zur Küche, sondern kannte daneben noch andere Quellen außerhalb der Kaserne, wo man gute und günstige Fourage bekommen konnte.
Er informierte mich genauestens über den Ablauf und die richtige Taktik bei der Kontrolle der Küche.
Nach der Begrüßung wurde der Sanitätsarzt vom Küchenleiter für ein kurzes Gespräch unter vier Augen in einen Dienstraum gebeten. Dabei wurden zunächst den Betrieb betreffende Vorgänge, Personalien usw. mitgeteilt. Das sollte ich mir ruhig anhören, um dann die für uns wichtige Frage nach dem Ablaufdatum der Vorräte zu stellen und mich über deren fachgerechte Entsorgung zu informieren.
Zu den Spielregeln gehörte, dass bei dieser Frage der Küchenbulle anbot, Lebensmittel, die kurz vor dem Verfall standen, dem Sanitätsbereich zum baldigen Verbrauch zu überlassen. Dieses Angebot sollte ich auf jeden Fall annehmen und mich erst danach auf die eigentliche Tour durch die Küche begeben. Dort waren die Abflüsse zu kontrollieren, die Toiletten und die Kleidung der Angestellten, z.B. ob alle Küchenangestellten eine Haube trugen. Der Oberstabsarzt sei mit diesem Teil der Aufgabe meist schnell fertig gewesen. Dabei sollte ich nicht übertrieben genau vorgehen.
So instruiert ging ich in Begleitung unserer Krankenschwester zur Kücheninspektion. Bei meiner Rückkehr fragte mich der Spieß als erstes nach den kurz vor dem Ablaufdatum stehenden Lebensmitteln, die ich mitgebracht hatt. Er zeigte sich mit meiner Arbeit zufrieden, unser nächstes Kompaniefest war gesichert.
Im Laufe der Zeit kamen weitere wehrpflichtige Kollegen zu uns in den Sanitätsbereich, aber Max war der einzige, der zu den übrigen Offizieren des Bataillons persönliche Kontakte pflegte. Einer seiner Spezis war der Chef der Helikopter-Staffel, mit dem er häufig auf Sauftour ging.
Max’ große Leidenschaft waren rasante Fahrten in schnellen Autos, durchaus auch im alkoholisierten Zustand. Er hatte schon Rallies gefahren, und wenn ich einmal bei einer Spritztour in seinem getunten Opel Commodore sass, zeigte er gern, was er und das Fahrzeug konnten: riskante Überholmanöver, Anschneiden von Kurven, Notbremsungen. Völlig unabhängig von den Straßenverhältnissen und der Verkehrssituation zeigte er dann, was in dem „Gerät“ steckte, und er jagte es dann durchaus auch auf gewöhnlichen Landstraßen auf 180 und darüber. In nüchternem Zustand war es als Beifahrer kaum auszuhalten, mit dem nötigen Alkoholspiegel aber empfand zumindest auch ich den Rausch der Geschwindigkeit.
Insgesamt war die dienstliche Beanspruchung in der Kaserne gering, es gab viel Leerlauf, ideale Bedingungen für meine wichtigste Aktion in dieser Zeit, die Fertigstellung einer Dissertation.
Nach meinem gescheiterten ersten Versuch (s.o.) hatte ich zunächst keinen Pläne mehr, den Titel zu erwerben. Ohnehin verzichteten damals immer mehr Kollegen auf die damit verbundene zeitaufwendige Arbeit, und der „Dr. med.“ war für die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit ohnehin nicht erforderlich.
Mein Freund Wolfgang arbeitete inzwischen als Assistent in der Anästhesieabteilung der Poliklinik der Ludwig Maximilian Universität. Er hatte erfahren, dass zwei Doktoranden Unterstützung beim Abschluss einer größeren experimentellen Arbeit suchten. Es ging um die Testung eines neuen Narkosemittels, das im Tierversuch an Ratten auf Nebenwirkungen untersucht wurde. Die Versuche der zwei Co-Doktoranden waren abgeschlossen, es fehlte aber die zusammenfassende Auswertung der von ihnen präparierten Rattenembryonen. Beide standen inzwischen im Staatsexamen und hatten ihrem Doktorvater vorgeschlagen, ein dritter Mitarbeiter solle die abschließende Auswertung machen. Dieser stimmte zu, er war an einem schnellen Ergebnis der Versuche interessiert, da die Arbeit von der Pharmaindustrie finanziert wurde. So wurde ich der dritte Mann bei dieser Arbeit.
Nach der Untersuchung einiger tausend Rattenembryonen und der Zuordnung zu den kodierten Testprotokollen war es soweit und ich konnte meine Dissertation über „Hunger und Durst als Missbildungsursachen bei der Ratte“ bei der Universität einreichen. Anfang Dezember 1971 bekam ich meine in lateinischer Sprache abgefasste Promotionsurkunde mit der Bewertung „Magna cum laude“.
München I
Nach dem Wehrdienst wollte ich meine Spezialisierung auf das Fach Dermatologie in Angriff nehmen, wie ich es bereits in meiner Zeit in Deggendorf in Erwägung gezogen hatte.
Meine erste Frau Lilly litt an einer Neurodermitis, die vor unserer Hochzeit im März 1970 weitgehend stumm verlaufen war. Während meines Wehrdienstes kam es aber wiederholt zu heftigen Schüben, die einmal sogar eine stationäre Behandlung erforderlich machten. Sie wurde in der Hautklinik der Technischen Universität am Biederstein behandelt, deren Chef, Professor Borelli, als Koryphäe auf dem Gebiet der Neurodermitis galt.
Ein glücklicher Zufall begünstigte meine Bewerbung für eine Ausbildungsstelle an dieser Klinik. Bei einem Schulkameraden, der in Dachau eine Tierarztpraxis betrieb, hatte ich den Privatassistenten von Borelli kennengelernt. Dieser riet mir, ich solle mich auf jeden Fall dort bewerben; sobald eine Stelle frei wäre, würde ich zu einem persönlichen Gespräch eingeladen.
Weiter erfuhr ich, dass der Weg in die Münchener Klinik in der Regel über Davos führte, wo der Klinikchef in einer ehemaligen Tuberkulose-Heilanstalt im Hochgebirge Klimatherapien bei allergischen Erkrankungen und Rehabilitationen bei berufsbedingten Hauterkrankungen durchführte.
Dem gut vernetzten B. war es gelungen, die von Insolvenz bedrohte Klinik Valbella in Davos für diesen Zweck zu gewinnen und bei den deutschen Krankenkassen und Rentenversicherungen die Übernahme der Behandlungskosten zu erreichen, die üblicherweise Therapien im Ausland nicht bezahlten. Die Klinikverwaltung blieb dabei in Schweizer Hand, die Ärzte aber kamen in der Regel von der Hautklinik der TU in München.
Ich bewarb mich und wurde zur persönlichen Vorstellung eingeladen. Professor Borelli, kannte ich nur dem Namen nach. Er hatte zwei Doktortitel, in Psychologie und Medizin, fachwissenschaftlich hatte er vor allem über Beziehungen von Hauterkrankungen und Psyche gearbeitet, im Kernfach Dermatologie dagegen nur wenig publiziert.
Als ich sein Büro betrat, saß hinter dem Schreibtisch ein großer, massiger Mann mit Stirnglatze, einer ausgeprägten Hakennase und einem hängenden Augenlid. (Ich erfuhr erst später, dass B. im Krieg ein Auge verloren hatte).
Er begrüßte mich freundlich und stellte allerlei Fragen: warum ich Hautarzt werden wolle, ob ich promoviert sei, meinen Familienstand, ob wir Kinder hätten. Am Ende fragte er, ob ich bereit sei, eine gewisse Zeit in der Klinik für Dermatologie und Allergie Valbella in Davos zu arbeiten, um anschließend meine Facharzt-Ausbildung an seiner Klinik in München abzuschließen.
Ich beantworte seine Fragen und sagte schließlich, es gebe auch einen persönlichen Grund für mein Interesse an der Dermatologie: meine Frau leide an Neurodermitis, ein Aufenthalt in Davos wäre unter diesem Gesichtspunkt auch für sie von Vorteil; sie sei medizinisch-technische Assistentin, und möglicherweise gebe es für sie in Davos ja ebenfalls eine Möglichkeit zu arbeiten.
B. machte sich in seiner typischen sehr großen Schrift Notizen und stellte mir schließlich eine Assistentenstelle an der Klinik in Aussicht, unter der Voraussetzung, dass ich nach einer Einarbeitung in München für etwa ein Jahr nach Davos ginge. Ich sagte sofort zu mit der Einschränkung, dass meine Frau einverstanden sein müsse.
Am 1. April 1972 begann ich meine dermatologische Fachausbildung in der Dermatologischen Klinik der Technischen Universität München, die in dem ehemaligen städtischen „Krankenhaus am Biederstein“ untergebracht war.
Die Welt, in die ich hier kam, war völlig verschieden von allen meinen bisherigen Tätigkeiten. Ich war jetzt Teil einer Universitätsklinik, mit allen damit verbundenen Verpflichtungen und Ansprüchen: Forschung und Lehre, Anwendung und Erprobung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, Ausrichtung von Kongressen und Fortbildungen.
Die verschiedenen Abteilungen wurden jeweils von einem Oberarzt geleitet. Unter ihnen gab es einige skurrile Typen, von denen ich einige hier kurz skizzieren möchte.
Die Strahlenabteilung wurde von einer älteren Dame geleitet, die immer ein wenig nach Schnaps roch. Sie liebte Weinbrandpralinen über alles und bot jedem, der sie wegen irgend einer Frage oder eines Befundes aufsuchte, zur Begrüßung ein „Mon Cherie“ an.
Der Chef der Allergieabteilung, ein fülliger, salbungsvoller Typ, ähnelte mit seinem dunklen Teint, der großen Hornbrille in einem rundlichen, vollwangigen Gesicht und der von einem schwarzen Haarkranz umgebenen Glatze eher einem Prälaten des Vatikan, als ein deutscher Hochschullehrer.
In überraschendem Kontrast zu dem mediterranen Erscheinungsbild stand seine stark norddeutsch gefärbte Aussprache: er sprach bei Wörtern, die mit St und Sp begannen, die Konsonanten getrennt aus, wodurch sein ohnehin ausgeprägtes Lispeln noch verstärkt wurde.
Die Andrologie leitete ein smarter Privatdozent aus Bochum, der Ähnlichkeit mit dem Casanova (Donald Sutherland) in Fellinis gleichnamigen Film hatte. Eine spitzzüngige Kollegin äußerte einmal, er sehe aus wie „ein personifiziertes Spermium“. Als begabter und geschickter Operateur leitete er in Personalunion auch die Chirurgie in der Klinik.
Vor dem Mittagessen in der Kantine traf sich die Ärzteschaft der Klinik in einem Seminarraum zur Vorstellung neu aufgenommener Patienten und Diskussion besonderer Fälle aus der Ambulanz.
Beim Tee nach der Mahlzeit unterhielt man sich dann über den neuesten Klinik-Klatsch, über Politik, Philosophie, Kunst und Literatur, weniger über fachliche Fragen. Im Mittelpunkt dieser Runde stand Gerhard Oe., unser Pathologe, auf den ich an dieser Stelle näher eingehen möchte.
Oe. war der einzige der Oberärzte, der sich mit uns Assistenten anfreundete und sich im Zweifel auch gegen die Klinikleitung mit uns solidarisierte. Er hatte in Leipzig als Facharzt für Pathologe gearbeitet, bis er „nach dem Westen machte“ und in Frankfurt eine zusätzliche Fachausbildung in Dermatologie absolvierte.
Im Lauf unserer gemeinsamen Jahre wurde er für mich zu einem der wenigen Vorbilder, die meine Lebensart, meinen Stil, mein Bild von einem liberalen Intellektuellen prägten. Ein Freigeist mit vielen Interessen, die weit über die Medizin hinausgingen, war er auch Kunstkenner und Sammler, und kannte sich sowohl in der klassischen Musik als auch im Jazz gut aus. Als ein in die Jahre gekommener Bohemien liebte er schöne Frauen und gute Weine, war voll von geistreichem, gelegentlich derbem Spott über die Bourgeoisie, schätzte andererseits aber die gehobene englische Lebensart sehr.
Immer misstrauisch gegenüber den Motiven, die seine Kollegen und insbesondere seinen Chef antrieben, reagierte er selbst dünnhäutig und gereizt, wenn man einmal ihn kritisierte.
Aus der schon von Anfang an gegenseitigen Sympathie entwickelte sich bis zum Ende meiner Ausbildung in München eine echte Freundschaft, wobei es aber nie zum vertraulichen „Du“ zwischen uns kam. Es war nicht nötig.
Anfang Januar 1972 sollte ich in die Klinik Valbella in Davos wechseln, wo mein Aufgabengebiet die Testung und die Behandlung von allergischen Atemwegserkrankungen sein sollte. Der Assistent, der mich in München auf diese Aufgabe vorbereitete, war selbst ein Jahr dort gewesen. Von ihm erfuhr ich viele Details des Lebens in der Schweiz und der Arbeit dort.
Er rauchte „Brissagos“, die Schweizer Variante der Virginiazigarren. Nachdem ich auch einmal eine probiert hatte, pafften wir bald gemeinsam. Sie hatten aber ein hartes und sehr kräftiges Aroma und schmeckten mir eigentlich nicht besonders gut. Oe. riet mir deshalb, einmal eine Havanna zu probieren. Beim Zechbauer gegenüber der Oper gab es eine große Auswahl davon und mit der Zeit lernte ich so die Montechristo, Romeo y Julieta, Partagas kennen, von denen ich auch seit einigen Jahren wieder gern die eine oder andere rauche.
Davos
In Davos übernahmen wir die Wohnung des Kollegen, den ich dort ablösen
sollte, eine möblierte 2-Zimmer-Wohnung im Haus „Schiablick“ in Davos Dorf, dem alten, ursprünglichen Teil des Ortes.
Anfang Januar 1973 begann ich meine Tätigkeit in der Klinik, Ende April 1975 kehrte ich nach München zurück. Da war ich ein anderer Mensch geworden.
Doch der Reihe nach.
Die „Deutsche Klinik für Dermatologie und Allergie“, wie sie offiziell hieß, war in einem Seitentrakt der Höhenklinik Valbella untergebracht, in der seit Ende des 19. Jahrhunderts Lungenerkrankungen, speziell Tuberkulose, behandelt wurde. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts, als diese Erkrankung selten geworden war, wurden hier vor allem Patienten mit Asthma bronchiale und chronischer Bronchitis zur Rehabilitation aufgenommen. Die Auslastung des Hauses war mit der Zeit immer geringer geworden, so dass der findige Prof. Borelli einen ganzen Trakt des Hauses übernehmen konnte und dort 1962 eine eigene Klinik einrichtete, deren Träger die Bundesrepublik Deutschland war. Die medizinischen Mitarbeiter waren ausschließlich Deutsche, die über ein Schweizer Konto vom deutschen Staat bezahlt wurden.
1973 lebten im ehemaligen Lungensanatorium noch einige fossile Schwestern, welche die glorreichen Zeiten der heroischen Lungenoperationen miterlebt hatten, die Entfernung ganzer von Tuberkulose zerfressener Lungenflügel, die Absaugung von tuberkulösem Eiter und anderen Exsudaten aus dem Brustraum, das Anlegen eines Pneumothorax zur Stilllegung von Lungenblasen und ähnliche Eingriffe, an die man heute nur noch mit Schaudern denken kann. Eine dieser liebenswürdigen alten Damen, in weißer Schwesterntracht mit Flügelhaube, zeigte mir einmal den ehemaligen Operationssaal, der sie liebevoll als kleines Museum konserviert hatten. Von den Decken über den Tischen hingen noch die Kettenzüge mit großen Haken, die zum Anheben kollabierter Lungen gedient hatten: ein Gruselkabinett.
In Davos erhielt ich als erstes wie alle deutschen „Gastarbeiter“, von der örtlichen Behörde einen Ausländerausweis, der bei bürokratischen Akten innerhalb der Schweiz, besonders aber bei der Aus- und Einreise mitzuführen war.
Dann tauchte ich in den kleinen Kosmos des „Valbella“ ein, in dem ich mich sofort wohl fühlte.
Die Menschen in dieser fast hermetisch geschlossenen Welt gehörten drei unterschiedlichen Schichten an, die ich im Folgenden kurz beschreiben möchte.
Unten waren die Putzfrauen und „Hausdiener“, die für kleinere Reparaturen, Transporte und Ähnliches zuständig waren. Die meisten von ihnen kamen aus Bosnien, und erhielten, in einem eigenen Haus untergebracht, nur geringen Lohn. Ihre Arbeitserlaubnis war zeitlich begrenzt, weshalb es häufig Wechsel in diesem Bereich gab.
Die Mitte bildeten die Krankenschwestern, Sekretärinnen und Laborantinnen, fast allesamt ehemalige Patienten der Klinik, die an Asthma, Neurodermitis oder Schuppenflechte erkrankt waren. Sie waren froh, in Davos arbeiten zu können, da sie im Höhenklima weitgehend symptomfrei blieben.
Die wichtigste Person auf dieser Ebene war die Oberschwester Christel, über die ich bereits in München von Kollegen, die sie aus Davos kannten, viel gehört hatte. Sie hatte den Laden im Griff, sie bestimmte, wo es lang ging, und man tat gut daran, sich mit ihr gut zu stehen, dann liefe alles bestens, so, ihr Bericht.
Auf sie möchte ich hier näher eingehen. Christel war ebenfalls als Asthma-Patientin in der Klinik gewesen und hatte beim Aufbau der Abteilung viel geleistet. Eine kleine, bewegliche Frau Mitte 40 war sie von großer praktischer Intelligenz, und ich kam von Anfang an sehr gut mit ihr aus. Diese gute Zusammenarbeit nahm auch keinen Schaden, nachdem ich in den ersten Wochen die Kompetenz- und Hierarchiefrage auf meiner Station klar geregelt hatte. Bei dieser privaten Unterhaltung sah ich zum ersten- und letzten Mal Tränen bei ihr. Wir hatten danach während meiner ganzen Zeit ein sehr gutes, von gegenseitigem Respekt geprägtes Verhältnis. Wenn man sie näher kannte, erwies sie sich als sensibel und humorvoll, ihre raue Außenseite war nur ein Schutzschild. Ich konnte mich absolut auf sie verlassen, und sie mochte mich auf eine unaufdringliche, halb mütterliche, halb frauliche Art. Am Valentinstag bekam ich immer ein kleines Geschenk von ihr.
An dieser Stelle sei mir ein wenig Selbstlob gestattet. Mein Ansehen bei den Mitarbeitern und der Respekt meiner Patienten stieg enorm, als ich schon in den ersten Wochen meiner Tätigkeit einen Patienten nach Hause schickte, der in Fortführung seiner bayerischen Gewohnheiten zwei Kästen Bier zur „Kur“ mitgebracht hatte, die er unter seinem Krankenbett abgestellt hatte. Als ich es bei der Visite sah, forderte ich ihn auf, das Bier zu entfernen. Da bei früheren Aufenthalten noch niemand an seinem Bierkonsum innerhalb der Klinik Anstoß genommen hatte, spielte er den starken Mann und weigerte sich frech und lautstark, meiner Aufforderung nachzukommen. Ich gab ihm Zeit bis zum nächsten Tag. Als die Bierkästen immer noch unter dem Bett standen, entließ ich ihn umgehend aus disziplinarischen Gründen. Der leitende Arzt G. und Schwester Christel waren ganz auf meiner Seite, ich musste aber einen Bericht zu dem Vorgang anfertigen, der an den Klinikchef in München ging und von dort an den Kostenträger weitergeleitet wurde. Der Mann fuhr zwei Tage später nach Hause, das Bier hatte er vorher mit Kumpanen ausgetrunken. Es war der erste Fall einer Entlassung aus disziplinarischen Gründen in der Klinik.
Oben in der Hierarchie standen die Ärzte, die Laborleiter und der Diplompsychologe Gerhard G. aus Hamburg, ebenfalls ein ehemaliger Asthma- und Neurodermitis-Patient.
G. machte Gruppentherapien bei Neurodermitis-Patienten, an denen fast ausschließlich Frauen teilnahmen. Eine Kollegin, die an diesen Sitzungen teilnahm und ihr Interesse bald auf die Person des Supervisors ausdehnte, schilderte mir einmal den Ablauf.
G. zog zunächst sich völlig aus und forderte alle Teilnehmerinnen auf, dasselbe zu tun. Dann setzten sie sich im Kreis auf den Boden und bildeten mit den Händen einen Ring. Nun wurde fleißig geatmet und meditiert, wobei verborgene und verdrängte Gedanken und geheime Wünsche spontan geäußert werden sollten.
Auch ich wurde mehrfach eingeladen, an diesen Sitzungen teilzunehmen, was ich aber ablehnte. Sich nackt zwischen mein nackten Patientinnen zu setzen, denen ich am nächsten Tag bei den Visiten mit medizinischer Autorität gegenübertreten sollte, fand ich unpassend.
Ein bleibendes Verdienst von G. ist die ausführliche Hommage auf Hans G., den leitenden Oberarzt des „Valbella“, die er nach dessen Tod schrieb. Daraus entnahm ich einige Lebensdaten dieses bemerkenswerten Mannes, auf den ich später näher eingehe.
Von meinen sonstigen Kollegen erinnere ich mich nur noch an Frau MacTaggart, später Sorkin, eine Polin um die 50, die in Scheinehe einen Engländer geheiratet hatte, um einen britischen Pass zu bekommen. Sie betreute Patientinnen im „Mühlenhof“, einer Dependance der Klinik in einem ehemaligen Bauernhaus.
Die folgende Episode war typisch für sie.
Einmal wöchentlich wurden Blutentnahmen durchgeführt. Als ich einmal in einem Nebenzimmer des Labors wartete, bis der Raum für mich und meine Station frei wurde, saßen dort noch einige ihrer eigenen Patientinnen. Offenbar gab es im Labor eine Stockung im Ablauf.
Schließlich kam Frau Sorkin heraus, eine bis zum Boden reichenden weißen Gummischürze umgehängt, die über und über mit Blut befleckt war, und bat mich um Unterstützung.
Auf der Liege im Labor lag ihr kollabiertes „Opfer“. Die arme Frau hatte an beiden Unterarmen und Handrücken mehr als zehn Einstiche. Sie bat mich flehentlich, ich möge doch die Blutentnahme am folgenden Tag bei ihr, machen. Nach einem kurzen Blick auf Frau Sorkin, die nickte, stimmte ich zu. Als die Frau das Labor verließ, umarmte sie mich, im Warteraum waren nur noch meine eigenen Patienten.
Der leitende Arzt des „Valbella“, Hans G., ein Hanseat, war neben dem Sachsen Oe. in München der zweite, der mich über den Beruf hinaus als Mensch nachhaltig beeindruckte und in gewisser Weise formte.
Äußerlich war er groß und hager, mit blondem, glatt zurückgekämmtem Haar und einer Hornbrille in einem jungenhaft gebliebenen Gesicht, damals 59 Jahre alt.
Im Wesen war er ruhig, liebte keine großen Worte, und machte nicht viel Aufhebens von den Dingen. Unprätentiös und bescheiden hatte er feste Grundsätze, was Anstand und Ehre betraf, und verteidigte diese nicht nur in privaten Diskussionen. Ich habe erlebt, dass er seinem Chef Borelli einmal in aller Öffentlichkeit mit deutlichen Worten in einer Angelegenheit widersprach, die ihm moralisch nicht einwandfrei erschien. Er war ehrlich und verlässlich, unabhängig und integer im Charakter, ließ er sich nicht von Modeströmungen beeinflussen, kurz gesagt, ein Mensch, dem man eine Million ohne Quittung zur Aufbewahrung übergeben würde.
Im persönlichen Umgang war er rücksichtsvoll und tolerant, freundlich und offen, mit humorvollem Verständnis für die Schwächen seiner Mitarbeiter und seiner Patienten. An sich selbst legte er dagegen strengere Maßstäbe an.
Auf eine gewisse Weise war bezeichnend für ihn, dass er in zweiter Ehe mit einer Frau verheiratet war, die aus einer großbürgerlichen jüdischen Familie in Frankfurt stammte.
Als ich Ilse G. kennenlernte, sah man ihr trotz ihres Alters noch an, dass sie in ihrer Jugend eine ausgesprochene Schönheit gewesen war. Ihre Familie war in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre vor den Nazis in die USA geflohen, wo sie als professionelle Fotografin für „Magnum“ arbeitete, die bekannte Fotoagentur. In deren Auftrag hatte sie nahezu die ganze Welt bereist. Trotz ihrer großbürgerlichen Herkunft, vielleicht aber auch gerade deswegen, war sie. bescheiden und von einer schlichten, natürlichen Noblesse, die niemals überheblich oder verletzend wirkte.
Die beiden hatten mich bald ins Herz geschlossen. Sie luden mich oft zum Essen ein, etwa zum traditionellen Käsefondue in der Vorweihnachtszeit, das nur mit viel Kirschwasser einigermaßen verträglich war, wie mir gleich zu Beginn mitgeteilt wurde. Dazu trank man einen Fendant, und wir Männer gönnten uns nach dem Essen zum Kaffee eine Havanna.
Über G.s erste Ehe wurde mir nicht viel bekannt. Es lag ein tragisches Ereignis darüber, das mit dem Tod seiner ersten Frau oder einer Tochter zusammenhing, den er angeblich durch eine medizinische Fehleinschätzung verschuldet hatte: eine nicht erkannte Blinddarmentzündung, oder etwas Ähnliches. Er hatte Hamburg verlassen und eine Stellung in Riad angenommen, um in einer von den Saudis gegründeten Universitätsklinik eine dermatologische Abteilung aufzubauen. Dort hatte er seine zweite Frau kennengelernt, als sie eine Fotoreportage über das Land machte.
Die Verbindung der beiden war die Gemeinschaft zweier vom Leben hart getroffener Menschen. Man könnte sogar sagen, dass sich durch das Schicksal seiner Frau Ilse und ihrer Familie für G. die Tragik seines eigenen Lebens, nämlich für den Tod seiner ersten Frau oder der Tochter verantwortlich zu sein, stark relativierte. War doch das Schicksal seiner Frau und ihrer Verwandten, die von ihnen erlebten Verbrechen der Nazizeit, damit nicht vergleichbar!
Wie er starb, steht nicht im Nachruf des Klinik-Psychologen G.
Das Ehepaar G. hatte auf Ibiza ein Haus, wo es sich während seiner Tätigkeit in der Klinik im Urlaub aufhielt. Nach seinem Ausscheiden aus der Klinik in Davos zogen die G.´s ganz auf die Insel. Auch nachdem seine Frau an einer Krebserkrankung gestorben war blieb Hans G. dort. Als geschickter Handwerker machte er viele der notwendigen Reparaturen am Haus selbst. Bei einer dieser Arbeiten rutschte der inzwischen 80-jährige vom Dach und stürzte auf die steinerne Terrasse.
Hans G. und Gerhard Oe. prägten mich auf ganz unterschiedliche Weise. Als ich sie kennenlernte, waren beide mit Ende fünfzig etwa gleich alt, im Charakter aber völlig verschieden.
Der Sachse Oe. war ein eher luftiger Typ, der zu intellektueller und epikureischer Extravaganz neigte, der Hanseat G. war solide, ohne trocken oder gar knöchern zu sein, beherrscht, belesen wie auch Oe., aber im Gegensatz zu diesem unmusikalisch. Zu dem offen und freundlich auftretenden G. mit seinem ausgeglichenen Temperament bildete der launische und fahrige Oe. mit seinen gelegentlichen Ausbrüchen und seiner misstrauischen und ablehnenden Art Menschen gegenüber, die er oft auf Anhieb nicht mochte, das Pendant.
Als Beispiel möge eine eher nebensächliche Eigenschaft beider gelten: während G. ein Freund der Sonne und der Wärme des Sommers war, mied Oe. als lunarer Typ helles Licht und fühlte sich bei Regenwetter besonders wohl.
Borelli, der Klinikchef, kam jeweils im Frühjahr und Herbst für einige Tage nach Davos, wo er einen kleinen Kongress veranstaltete. Die Referenten rekrutierte er aus den Assistenten und Oberärzten der Münchener Klinik. Es ging dabei immer um die gleichen Themen und das Ganze war mehr ein Familientreffen als eine wissenschaftliche Veranstaltung.
Einige Tage vor Beginn der Tagung ließ sich B. bei einer Visite im „Valbella“ ausgewählte Fälle vorstellen, eine besonders für Hans G. unangenehme Veranstaltung, da Borelli bei dieser Gelegenheit immer neue Regelungen des Klinikbetriebs mitbrachte, die den sonst ruhigen Gang im Haus störten.
Nach meinem Eintritt in die Klinik war ich bei einer dieser Visiten dabei. Auch diesmal hatte B. unangenehmes im Gepäck, das jetzt auch mich betraf.
Jeder Klinikchef, der etwas auf sich hielt, hatte damals sein „eigenes“ Journal. Borelli war wissenschaftlicher Beirat und Herausgeber der monatlich erscheinenden Zeitung, „Der informierte Arzt“, die zur Regenbogenpresse der Medizin gehörte. Darin ging es außer um dermatologische Fragen auch um Arbeitsmedizin und versicherungstechnische Probleme.
B. fragte mich, ob ich die Redaktion der eingereichten Artikel für ihn übernehmen könne. Es war einer dieser Fragen, die man nicht abschlägig bescheiden konnte. Meine Aufgabe war es, die die eingereichten Arbeiten inhaltlich zu prüfen und gegebenenfalls mit Korrekturen an den Verlag nach Frankfurt zurückzusenden. Diese undankbare Aufgabe kostete mich in der Folge viel Zeit und Energie, auf das kleine Honorar dafür hätte ich gerne verzichtet.
Doch es kam noch schlimmer. („Thus bad begins and worse remains behind“, wie es im Hamlet heißt).
Ich sollte auf der Jahrestagung der „Schweizerischen Gesellschaft für Dermatologie und Venerologie“ am 19. und 20. Oktober 1973 in Bern einen Vortrag über die Therapieergebnisse unserer Klinik in den letzten fünf Jahren halten.
Ich hatte bisher noch nie als Referent an wissenschaftlichen Kongressen teilgenommen und äußerte deshalb Bedenken, dass ich mich der Aufgabe, bei einer so hochkarätigen Veranstaltung zu sprechen, nicht gewachsen fühle. Borelli wischte das mit einer Handbewegung vom Tisch, sicherte mir die Unterstützung der Münchener Kollegen bei der Abfassung zu und auch G. erklärte sich zu jeder Hilfe bereit. Mir blieb keine Wahl. Ich wollte wissenschaftlicher Assistent in einer Uniklinik werden und in dieser Stellung wurden selbstverständlich auch Forschungbeiträge und Vortragstätigkeit erwartet.
Den Titel des Vortrags hatte B. schon formuliert: „Intracutantestungen bei konstitutioneller atopischer Neurodermitis. Ergebnisse und Ausblick.“
Es begann eine mühsame Arbeit für mich. Die Verlaufs – und Entlassungsberichte der Neurodermitispatienten in den letzten fünf Jahre mussten durchgesehen, statistisch erfasst und ausgewertet werden.
Dabei war die Sache selbst war übrigens weder neu noch interessant. Es gab Veröffentlichungen darüber wie Sand am Meer, die noch dazu auf wesentlich größeren Patientenzahlen und fundierteren Untersuchungsmethoden basierten als sie mir zur Verfügung standen.
Das Manuskript meines Vortrags ging zur Kontrolle einige Male zwischen Davos und München hin und her, ohne dass es substantiell besser wurde. Borelli selbst gab mir abschließend noch die handschriftliche Anweisung, am Beginn des Vortrags den Dank für die Einladung nicht zu vergessen und persönliche Grüße von ihm an das Auditorium zu übermitteln.
Am 19. Oktober war ich in Bern und verfolgte die Beiträge dieses Tages, um mir ein Gefühl für den Ablauf zu verschaffen. Im Anschluss an die Vorträg gab es jeweils eine kurze Diskussion der Ergebnisse. Neu war für mich, dass die Diskutanten dabei jeweils ihre eigene Sprache benutzten, also die Deutschschweizer Schwyzerdütsch, die Leute aus der Romande Französisch, die Tessiner Italienisch.
Als ich am nächsten Tag zu meinem Vortrag aufgerufen wurde, dankte ich zu Beginn artig für die Einladung und überbrachte weisungsgemäß die Grüße von Professor Borelli aus München.
Dann las ich mein Manuskript ab, weil ich keine Übung im freien Vortrag hatte. In der Vorbereitungsphase hatten weder meine Supervisoren in München noch ich bedacht, dass die Redezeit beschränkt war. Ich war noch nicht bei der Hälfte, als der Präsident der Tagung mich unterbrach und bat, ich möge zum Abschluss kommen, man sei ohnehin in Zeitverzug.
Ich klebte dennoch krampfhaft weiter an meinem Text, und erst auf die zweite dringende Mahnung, sprang ich abrupt zum Schluss. Ich erhielt höflichen Beifall, eine Diskussion gab es nicht. Die Sache war extrem peinlich für mich.
Schon am Nachmittag fuhr ich, noch vor Ende der Tagung, deprimiert nach Davos zurück. Hans G. tröstete mich, wir tranken eine Flasche Fendant und rauchten eine Havanna.
Mein Bericht nach München war kurz, und es gab keinen Kommentar von dort. Das Ganze war für mich eine traumatische Erfahrung, und gleichzeitig eine Lehre. Ich hatte wie ein Depp vor einer Versammlung hoch qualifizierter Wissenschaftler gestanden, und meine „wissenschaftlichen“ Ergebnisse hatten bestenfalls ein müdes Lächeln hervorgerufen, wahrscheinlich eher Unmut.
Die Veröffentlichung meines Vortrags in der schweizerischen Fachzeitschrift für Dermatologen Mode konsequenterweise abgelehnt.
Die Lehre war, dass wissenschaftliches Arbeiten, das diesen Namen verdiente, in der Münchner Klinik wahrscheinlich nicht möglich war. Eine Karriere an der Universität kam für mich seitdem nicht mehr in Frage.
Ich habe anfangs bereits gesagt, dass ich bei der Rückkehr aus Davos ein anderer Mensch gewesen bin als bei meiner Ankunft. Die Veränderungen betrafen zwei Lebensbereiche:
-meine körperliche Verfassung und
- meine Ehe.
Hier ist nicht der Platz, die Probleme zu diskutieren, die sich während meiner Zeit in Davos für meine Ehe ergaben. Das wird an anderer Stelle besprochen.
Hier beschränke ich mich darauf, über die Verbesserung meiner körperlichen Verfassung zu berichten.
Gleich am Anfang meiner Zeit in Davos hatte ich einen Skiunfall. Ein Rowdy schnitt mich bei der Abfahrt von der Schatzalp, ich stürzte und zog mir eine schmerzhafte Außenbandzerrung am rechten Knie zu. Ich gab darauf meinen ursprünglichen Plan auf, nach meinen ersten vergeblichen Versuchen in Deggendorf in Davos Abfahrtsski zu lernen.
Mein Mentor G. wies mich auf die vielfältigen Vorteile und Möglichkeiten hin, die der Skilanglauf bietet. Er geriet ins Schwärmen, wenn er die winterlichen Landschaften, die verschneiten Täler, die stillen Wälder beschrieb, die er bei seinen Touren gesehen hatte, und riet mir, ich solle es einmal damit versuchen. So kam ich zu diesem Sport, den ich in der Folgezeit intensiv betrieb.
Ich begann schon im Sommer 1973 mit Joggen und Fahrradfahren, und machte gleich zu Beginn der Wintersaison einen Anfängerkurs im Langlauf. Ich hatte aber lange Zeit Probleme mit dem Fahren bergab, da ich die Gewichtsverlagerungen in den Kurven nicht richtig hinkriegte. Wenn es das Wetter zuließ, lief ich deshalb in der Mittagspause eine unproblematische Strecke um den See ohne Steigung und Gefälle.
Es war ein Glücksfall, dass in meinem Haus ein Italiener wohnte, mit dem ich in Kontakt kam, als wir beide einmal gerade unsere Ski anlegten. Diese Begegnung führte zu einer der wenigen Freundschaften in meinem Leben, die ich nach meiner Kindheit und Jugend noch schloss.
Mario war einige Jahre älter als ich. Er stammte aus den norditalienischen Trentino, hatte, wie viele Bewohner der norditalienischen Gebirgsregionen, blonde Haare und einen markanten, „klassischen“ Gesichtsschnitt. Außer seiner Muttersprache sprach er Französisch, Englisch und Deutsch mit schweizerischem Akzent, er war verheiratet und hatte zwei Kinder. Erst als wir uns schon länger kannten, erfuhr ich, dass er als Barmann im Hotel des Alpes arbeitete. Mit seiner charmanten, weltläufigen Art und seinem guten Aussehen schien er mir für diesen Job prädestiniert.
Wegen seiner nächtlichen Arbeit schlief morgens lang, und so liefen wir in meiner Mittagspause oft gemeinsam eine Runde. Mit seiner fantastischen Kondition und Technik beim Laufen war er mir weit überlegen. Aber auch ich kam durch das regelmäßige Training im Winter in eine gute Verfassung und nahm als Nebeneffekt etwa fünf Kilo Gewicht ab.
Mario überredete mich, mit anderen Freunden aus Davos am Engadiner Ski-Marathon im Frühjahr 1974 teilzunehmen. Die Strecke geht über die klassische Distanz von 42,5 km und verläuft von Maloja über die gefrorene Oberengadiner Seenplatte völlig eben bis zum Ziel in Zuoz.
Früh am Morgen des 10. März fuhren wir mit einem Bus zum Startpunkt auf dem zugefrorenen Silser-See bei Maloja. Die äußeren Bedingungen waren ideal, die Temperatur lag etwas unter null, die Sonne schien, es wehte nur ein schwacher Wind. Die etwa acht- bis zehntausend Läufer stellten sich zum Massenstart in einem Block auf, ganz vorn die Elite-Läufer, Männer und Frauen, die bei internationalen Konkurrenzen vordere Plätze belegt hatten.
Ein Böllerschuss signalisierte den Start. Danach löste sich der dunkle Block aus Läufern und alles bewegte sich nach Norden über die Schneedecke auf dem Eis des Sees.
Jeder glühte vor Ehrgeiz, jeder wollte schneller sein als sein Nachbar, alle suchten eine freie Lücke, um schneller voran zu kommen. Man hörte überall Flüche und Beschimpfungen wegen angeblicher Behinderungen, und es schien manchmal, als ob die Teilnehmer um ihr Leben liefen.
Ich kam gut ins Rennen und schaffte die Strecke in einer Zeit von 3:30:10. Damit war ich hoch zufrieden. Auch im folgenden Jahr waren wir wieder dabei und ich war mit sogar eine Viertelstunde schneller als im letzten Jahr.
Hier ist Gelegenheit, der Zeit etwas vorgreifend, von einem ganz speziellen Langlauf-Erlebnis zu berichten.
Im Frühjahr 1975, kurz vor meiner Rückkehr nach München, war ich bei bestem Winterwetter ins Sertig-Tal hinausgelaufen. Am Eingang zum Tal begann eine Steigung von etwa 2 km Länge, an deren Ende ein Gasthaus lag. Als ich hinauf blickte, wurde mir blitzartig bewusst, dass ich in meinem ganzen späteren Leben nie mehr in so guter körperlicher Verfassung sein würde wie in diesem Augenblick. Das wollte ich ein letztes Mal auskosten und lief mit voller Kraft die Steigung hinauf. Als ich das Gasthaus erreichte, war ich völlig ausgepumpt, aber auch erfüllt von einem großen Glücksgefühl und voller Dankbarkeit für diesen Augenblick, der diesen Abschnitt meines Lebens abschloss.
Zurück in das Jahr 1974.
Die Skisaison in Davos war im Mai zu Ende, aber meine gute körperliche Verfassung wollte ich auch den Sommer über halten. Deshalb suchte ich eine neue sportliche Betätigung. Was lag näher, als die umliegenden Berge?
Im Frühjahr buchte ich einen Bergsteiger-Kurs für Anfänger. Die Gruppe war eine Woche auf einer Berghütte in der Nähe von Davos, wo uns Kursleiter Toni die Techniken demonstrierte und wir unter seiner Aufsicht praktische Übungen durchführten.
Auf dem Lehrplan standen die Grundelemente des Bergsteigens: das richtige Gehen, die Handhabung des Seils einschließlich der wichtigen Knoten zur Sicherung im Fels, die Technik des Abseilens, das Verhalten im Eis.
Gleich nach dem „Grundkurs Fels“ machte ich, wieder mit Toni als Führer, einen speziellen Kurs für das Gehen im Eis, diesmal auf dem Silvretta-Gletscher.
Das Gehen im Eis mochte ich nicht, ich fühlte mich auch beim Erklettern nur mässig steiler Eiswände mit Steigeisen und Pickel immer unsicher, während mir der Fels von Anfang an wenig Probleme bereitet hatte. Mit Ausnahme einer späteren Tour auf die Marmelada über den Nordwestgrat - mehr darüber später - habe ich deshalb keine Eistouren mehr gemacht.
Den Abschluss und Höhepunkt des Kurses bildete eine Tour über den Silvrettagletscher auf den Piz Buin (3312 m).
Es war ein unvergesslicher Tag.
Die anderen Kursteilnehmer waren bereits wieder abgestiegen und ich war allein mit Toni unterwegs. Um 4:00 Uhr morgens starteten wir bei bestem Wetter über den Gletscher. Die Sicht war klar, die Luft frisch, die Temperatur lag um null Grad. Als wir aufbrachen, leuchtete noch ein klarer Sternenhimmel über uns, dessen schwaches Licht vom Schnee reflektiert wurde, bis sich nach etwa einer halben Stunde das erste Tageslicht im Osten zeigte. Nach der Querung des Gletschers wanderten wir auf jetzt felsigem Untergrund bei Sonnenaufgang zum Piz Buin.
Der Aufstieg selbst war technisch nicht schwierig und wir gingen ohne spezielle Sicherung hinauf. Es war absolut still, als wir um halb acht den Gipfel erreichten und bei strahlendem Sonnenschein hinab ins Engadin blickten. Nach kurzer Rast machten wir uns auf den Rückweg, da ein kräftiger kalter Wind aus dem Tal heraufwehte und es trotz des schönen Wetters ungemütlich wurde.
Das Bergfieber hatte mich gepackt, und auch hier wurde Mario wieder eine treibende Kraft. Er hatte seinen Militärdienst bei den Alpini in Belluno abgeleistet, den italienischen Gebirgsjägern. Zur Ausbildung gehörte nicht nur der Skilanglauf, sondern auch das Klettern in Eis und Fels. Als ich ihm von meinen Kursen erzählte, erinnerte er sich an diese Zeit und schlug vor, wir könnten zusammen am Seehorn trainieren, das in 10 Minuten vom „Schiablick“ zu erreichen war.
Das Seehorn ist eine ca. 80 m hohe Felsnadel, wo es definierte Routen unterschiedlicher Schwierigkeit gab, die mit festen Haken gesichert waren.
Auch hier war mir Mario überlegen, er war versierter und vor allem mutiger als ich und kletterte in der Regel voran.
Wenn er auf einem Sicherungsplatz auf mich wartete, sang er laut die Berglieder, die er bei den Alpini gelernt hatte. Einige singe ich gelegentlich auch heute noch, vor allem aber entwickelte sich auf diese Weise meine lebenslange Liebe zur italienischen Sprache. (S. Kapitel „Übersetzungen“).
Unsere Freundschaft wurde gegen Ende meines Aufenthaltes in Davos leider getrübt, als Mario mich einmal zum Abschied abends in „seine“ Bar im Hotel des Alpes einlud. Gleich nach dem Eintritt fand ich mich in einer anderen Welt, einer Welt, die mir völlig fremd war, in der ich mich augenblicklich unwohl fühlte. Mario, den ich bis dahin nur in „zivil“ kannte, in Sportkleidung, dem Langlaufanzug oder mit Kletterausrüstung, war hier plötzlich ein anderer Mensch. Er trug einen eleganten silbergrauen Anzug, flirtete ungeniert mit den Frauen, trank Cocktails und Champagner mit ihnen.
Ich kam mir vor wie in einem Film oder auf einem Kostümfest. Unfassbar: der Hauptakteur in dieser Welt war mein Freund Mario, mit dem ich so viele Touren auf der Langlaufpiste und im Fels gemacht hatte, von dem ich die Lieder der Alpini gelernt hatte, er machte hier den Gigolo, den Clown für die Gäste der Bar, schüttelte jede Menge Cocktails in sich hinein. Es war der Sturz eines Idols, und ich verabschiedete mich früh aus dieser mir fremden Welt.
Einige Tage später umarmten wir uns ein letztes Mal mit gezwungener Herzlichkeit. Wir waren beide unsicher und verlegen, ich selbst war eher traurig. Wir wussten, dass es kein Wiedersehen geben würde.
Später wurde mir zugetragen, er sei dem Alkohol verfallen; eines Abends habe er in der Bar einen Wutanfall bekommen, randaliert und sei nach Hause gegangen, nachdem er noch Teile der Einrichtung demoliert hatte; kurze Zeit später sei er mit seiner Familie nach Italien zurückgekehrt. Ob es stimmt, weiß ich nicht, aber ich würde es mir wünschen.
Im Spätherbst 1974 war ich noch einmal mit Toni und zwei anderen Teilnehmern auf einem Kletterkurs, diesmal auf der Albingahütte im Bergell, unterhalb des Maloja-Passes, von der man aus den mächtigen Piz Badile sehen konnte.
Wir machten einige schöne Touren bis in den vierten der klassischen sechs alpinen Grade. Als gegen Ende der Woche nach einer anstrengenden Tour am Vortag die anderen Teilnehmer des Kurses einen Tag Ruhe einlegten, ging Toni am letzten Tag mit mir allein.
Über unser Ziel und den Schwierigkeitsgrad der Tour machte er entgegen seiner sonstigen Art keine klaren Angaben. Wir hielten schließlich an einer spitzen Granitnadel, nur knapp 40 m hoch, aber sehr steil, der „Fiamma“.
Toni kletterte in seiner ruhigen behutsamen Art hinauf und nachdem er das Sicherungsseil befestigt hatte, gab er mir Zeichen, ich solle nachkommen. Die Wand war sehr „stotzig“, glatt und fast senkrecht, es gab nur wenig winzige Tritte und Griffe. Irgendwie kam ich aber hinauf ohne zu stürzen, traute mich aber nicht, mich auf dem schmalen Gipfelgrat aufrecht zu stellen. Ich setzte mich nur im Reitersitz auf die schmale Kante und ließ die Beine rechts und links herunterbaumeln. Toni gratulierte mir, die Route hatte den Schwierigkeitsgrad 5+. Es war mein Meisterstück im Felsklettern und ich war mächtig stolz.
Um das Kapitel erinnerungswürdiger Erlebnisse am Berg abzurunden, greife ich hier einige Jahre voraus. Bei einem Urlaub in Cavalese hatte ich zwei passionierte italienische Bergsteiger kennengelernt: Franco, ein Südtiroler, blond, kernig, mit einer besonderen Art von Humor, die mir gut gefiel, und Giancarlo, in Aussehen und Wesen ein typischer Italiener, dunkelhaarig, etwas schlitzohrig. Giancarlo hatte schon schwierige Touren im Fels gemacht, während Franco das Eis liebte. Ihm vertraute ich rückhaltlos wie schon Mario, während ich bei Giancarlo nicht so sicher war.
Wir beschlossen, auf die Marmolata (3343m), den höchsten Berg der Dolomiten, zu gehen.
Kurzfristig schloss sich uns am Abend vor der Tour noch Angelo an, der Wirt unseres Hotels. Als wir am nächsten Tag am Berg waren, stellte sich heraus, dass seine Ausrüstung unzulänglich war. Steigeisen und Eispickel musste er ausleihen und seine Schuhe waren für die geplante Tour nur bedingt geeignet.
Unter Führung von Franco begannen wir an einem schönen Sommertag von der Bergstation eines Sessellifts gegen neun Uhr den Aufstieg, der uns über den Marmolata-Gletscher und den Nordwestgrat auf den Gipfel führen sollte. Eis und Schnee hatte ich, wie bereits gesagt, nie gemocht und fühlte mich entsprechend unsicher, als wir uns zu viert anseilten.
Wir querten den Gletscher, um zum Nordwestgrad zu gelangen, der von einer hohen Schneeschicht bedeckt war. Besonders gefährliche Stellen der Route waren jeweils durch eine sogenannte „Via ferrata“ entschärft, eine Steighilfe aus einbetonierten Eisenstiften mit einem Halteseil aus Draht.
Es ging zunächst gut voran, bis uns an einem steilen Wandstück eine Gruppe italienischer Studenten blockierte, die in einer „Via ferrata“ feststeckten. Wir mussten sie oberhalb umgehen, ein riskantes Manöver, denn die Strecke war steil, und es konnte sich jederzeit eine Lawine aus dem leicht überhängenden Schneebrett über uns lösen. Wäre nur einer von uns abgerutscht oder hätte eine Lawine losgetreten, er hätte alle mit sich in die Tiefe gerissen. Als wir den Gipfel erreichten, schwor ich mir, nie wieder eine Tour im Eis zu machen.
Der Abstieg über den Nordostgrat ging über blanken Fels. Hier war ich in meinem Element, und Franco und Giancarlo, die meine Unsicherheit beim Aufstieg bemerkt hatten, waren erstaunt, wie ich jetzt ohne Schwierigkeit problematische Stellen bewältigte, die der unerfahrene Hotelier nur mit ihrer Hilfe überwinden konnte.
1974 fragte ich Prof. Borelli bei einer Visite, wann ich zum Abschluss meiner Facharztausbildung zurück nach München kommen könne. Er sicherte mir für das kommende Jahr eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent in seiner Klinik in München zu.
Im April 1975 verließ ich Davos und kehrte nach München zurück. Der Zauberberg, der hermetische Kosmos von Davos, war Vergangenheit und verklärte sich sofort zum verlorenen Paradies.
München II
Die Klinik hatte sich seit meinem ersten Aufenthalt nicht wesentlich geändert. Es gab einige neue Gesichter, aber im Kern war alles noch so, wie ich es bereits kannte. Während ich aber drei Jahre zuvor in Vorbereitung auf Davos speziell auf die Diagnostik und Therapie von Allergien trainiert worden war, lernte ich jetzt das ganze Spektrum des Faches kennen.
Ich leitete zunächst einige Monate als Stationsarzt die Männerstation, und wechselte dann in die Frauenambulanz der Poliklinik. Unser Team bestand aus einem Oberarzt, zwei Assistenten und vier versierten Krankenschwestern, die in ausgesprochen guter Arbeitsatmosphäre „den Laden schmissen“.
Hier lernte ich, was mich vor allem interessierte: die praktische Dermatologie, hier bündelte sich das ganze Spektrum des Fachs, von der banalen Akne und Schuppenflechten bis zu seltenen und manchmal exotischen Dermatosen. Ich sah hier Krankheitsbilder, die Kollegen, die sich an kleineren Häusern spezialisiert hatten, nur aus dem Lehrbuch kannten.
Bei den Geschlechtskrankheiten, dem zweiten großen Teil des Fachs, kamen mir meine Erfahrungen in der Gynäkologie aus der Zeit in Deggendorf jetzt zugute, in der sich viele meiner jüngeren Kollegen kaum auskannten, da dieses Fach für die Approbation inzwischen nicht mehr verpflichtend war.
Schon am Beginn meiner Facharztausbildung in der Klinik war mir klar, dass ich nicht an der Klinik bleiben würde, um Karriere an der Universität zu machen. Wozu die Kärrnerarbeit über viele Jahre, nur um einen Titel zu bekommen?
Und wie die Wissenschaft aussah, die an der Klinik betrieben wurde, sah ich täglich: das Zusammentragen irgendwelcher Statistiken und anschließend der Kampf um eine Publikation in einem renommierten Fachblatt. Das war nicht das, was ich mir unter Wissenschaft vorgestellt hatte.
In den letzten Jahren war ich „bayernmüde“ geworden.
Als ich 1965 nach München gekommen war, war die Stadt für mich eine neue herrliche Welt gewesen, in der ich mich von Anfang an wohl fühlte. Als ich zehn Jahre später aus Davos zurückkam, war überall spürbar, wie sehr sich diese Welt inzwischen verändert hatte. Das dörfliche Ambiente, die familiäre, gelegentlich schlitzohrige Art der Menschen von früher gab es kaum noch. München war „Schicki-Micki“ geworden, ehemals gemütliche Bierkneipen in Schwabing waren jetzt Clubs, in denen sich die Jeunesse dorée bei lauter Musik vergnügte, kurz, die Stadt, die ich so gemocht hatte, existierte nicht mehr.
Angebote, mich nach Abschluss meiner Facharztausbildung in einer Kreisstadt in der Nähe Münchens niederzulassen, schlug ich aus. Es gab inzwischen neue Möglichkeiten. Mein Bruder war dabei, auf dem Areal der Praxis meines Vaters einen Neubau zu errichten. Dort war mein Platz für eine eigene Praxis, deren Raumaufteilung ich noch selbst festlegen konnte!
Im Frühjahr 1979 hatte ich die Anerkennung als „Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten“ mit der Zusatzbezeichnung „Allergologie“ in der Tasche. Ende Juni verließ ich die Klinik und zog zurück nach X.
Am 1. Oktober 1979 eröffnete ich dort in der Bahnhofstraße 3 meine dermatologische Praxis, die ich bis 2006 allein betrieb.
Im Leben
Zeit: Februar 1980 bis zur Gegenwart
Ort: X.
Am 1. Februar 1980 lernte ich meine zweite Frau Maria kennen, mit der ich bis heute in Liebe verbunden bin.
Postscript 1:
Ich schließe diesen Bericht mit einem Gedenken an meine Großmutter, die „erste Liebe mir ins Herz blies“. Wenn es einen Himmel gibt, wird sie auch dort, wie in ihrem irdischen Leben, ohne Wenn und Aber das tun, was sie für ihre Pflicht hält. Ihr verdanke ich den glücklichen Start in ein bis heute glückliches Leben. (S. a. „Familie und Freunde“ in Kapitel „Abschiede“).
Postscript 2:
Der aufmerksame Leser wird sich fragen, warum in dem hier beschriebenen Lebensabschnitt keine Liebesgeschichten vorkommen, da solche doch gerade in den Jahren, die dieser Bericht schildert, eine besondere Rolle zu spielen pflegen.
Die Antwort ist, dass es diese Geschichten natürlich auch in meinem Leben gab, dass sie aber nach meinem Dafürhalten hier keinen Platz haben. An anderer Stelle bin ich auch auf diese Seite meines Lebens eingegangen.
(S. Kapitel „Abschiede“).
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