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Die Entschwundene

Aktualisiert: 12. Sept.

Die Erzählung ist der dritte Teil der Reihe „Auf der Suche nach der vergangenen Liebe".

Der Titel orientiert sich an Marcel Prousts „Die Entflohene" („Albertine disparue".), dem sechsten Band der „Recherche“.

Fred, das Alter Ego des Verfassers, begegnet auf seiner Irrfahrt im Meer der Liebe Jada, einer Liebe, der kein glückliches Ende beschieden war.

Der Name der Protagonistin wurde verändert. Sie verkörpert in dieser Erzählung die Nausikaa* aus der Odyssee.



Jada - Nausikaa (1975)


Es war buchstäblich Liebe auf den ersten Blick.

An einem Abend Anfang Februar 1975 stand Fred vor einem Sportgeschäft in Davos-Dorf und betrachtete die Auslage. Von der Klinik her näherte sich eine Gruppe junger Frauen im lebhaften Gespräch. An ihrer weichen, melodischen Sprache erkannte er bosnische Putzfrauen, die nach Feierabend zum Personalhaus zurückkehrten.

Sie waren fast an ihm vorbei, als er ein Seufzen hörte, gefolgt von einem  halblauten „Mon Dieu". Überrascht blickte er sich um. Einige Meter hinter der Gruppe lief eine junge Frau, die ihn kurz anblickte und dann schnell weiter ging. Ihr Blick traf ihn wie ein Blitz. Damit begann eine große Liebe, der kein glückliches Ende beschieden war.

Am nächsten Tag erkundigte er sich und erfuhr, dass Jada seit Anfang des Monats als Laborassistentin in der Klinik arbeitete. Sie sei Algerierin, aber in Frankreich aufgewachsen. Sein Stationszimmer lag unmittelbar neben dem Labor, und so ergab sich ganz von selbst ein persönlicher Kontakt. Sie verabredeten sich und eine Woche später kam sie abends in seine Wohnung.

Die Begegnung mit ihr war wie ein Rausch. Sie hatte ihre Lust nicht verborgen, und sie verbrachten eng aneinander, geschmiegt eine Nacht, in der sie mehrmals einen Höhepunkt erreichten. Dieser Nacht sollten noch viele folgen, wenn auch nicht tausendundeine.

Jada war 21, etwas grösser als Fred. Ihr jugendliches Gesicht mit der leicht breiten, geraden Nase und den dunkelblauen Augen war in seiner hellbraunen Tönung von einer geradezu klassischen Ausprägung. Die schwarzen Haare trug sie während der Arbeit in einem Knoten am Hinterkopf, in der Freizeit lang über die Schultern fallend. Ihrer gut proportionierten Figur sah man an, dass sie später üppig werden würde.

Ihre Muttersprache war Arabisch, aber auch Französisch, die offizielle Landessprache in Algerien, sprach sie fließend. Sie war in Frankreich zur Schule gegangen, wo sie auch etwas Deutsch gelernt hatte. Bei der Unterhaltung mit ihr brachte die ulkige Mischung dieser beiden Sprachen ihre Gesprächspartner oft zum schmunzeln. Fred sprach mit ihr in der Regel Französisch.

Seine Frau, die mit ihm Anfang 1972 nach Davos gegangen war, war schon bald wieder nach München zurückgekehrt, da sie sich in Davos nicht Einleben konnte und auch keine Arbeitsstelle bekam. Seitdem fuhr Fred an seinen freien Wochenenden immer nach Garmisch, wo ihre Eltern wohnten. (Über den Verlauf dieser Ehe wird an anderer Stelle berichtet. Der Gefangene, die zweite Erzählung dieser Reihe) Als er Jada begegnete lag seine erste und bisher einzige außereheliche Beziehung mit einer Kollegin mehr als ein Jahr zurück. Fred hatte danach starke Gewissensbisse gehabt und sich nach dem Ende dieser Affäre geschworen, dass sich das nicht wiederholen dürfe.

Und jetzt Jada! Es war nicht der pure Trieb wie bei der Kollegin, der ihn mit ihr verband, es war Liebe. In ihr fand er zum ersten Mal in seinem Leben eine Frau, die ihn ebenso liebte wie er sie.

Auch jetzt machte er sich Vorwürfe wegen des gebrochenen Treueversprechen seiner Frau gegenüber, aber sie waren jetzt wesentlich geringer. Seines Doppellebens wurde er sich nur an den Wochenenden bewusst, wenn er mit ihr in Garmisch zusammen war. Nicht selten verabschiedete er sich morgens in Davos von Jada und musste abends im Bett seiner Frau seine Liebe zu ihr beweisen.

Jadas Familienverhältnisse waren kompliziert. Ihre Mutter entstammte einer wohlhabenden Landbesitzerfamilie aus der Umgebung von Oran, die während der Kolonialzeit enteignet wurde. Danach zog die Familie in die Stadt und hielt sich mit einem Lebensmittelgeschäft in der Kasbah mehr schlecht als recht über Wasser.

Ihr Vater hatte bis zur Unabhängigkeit Algiers von Frankreich 1962 als Dolmetscher beim französischen Militär in Oran gearbeitet. Er hatte eine Ausbildung als Lehrer, bekam aber wegen seiner algerischen Herkunft keine entsprechende Anstellung. Die Franzosen duldet nur französische Staatsbürger als Lehrer an den Schulen.

Die Verbindung ihrer Tochter mit einem „traître“, einem Kollaborateur der Franzosen gefiel Jadas Eltern nicht, aber sie hatten sich über ausdrückliche Verbot ihres Vaters hinweggesetzt und geheiratet.

Nach der Unabhängigkeit Algeriens 1962 musste ihr Vater wegen seiner Unterstützung der Franzosen während der Besatzung nach Frankreich gehen. Er erhielt die französische Staatsbürgerschaft und bekam eine Anstellung als Lehrer in Korsika. Jadas Vater verlangte daraufhin die Scheidung seiner Tochter, die sie aber verweigerte, da sie ihren Mann trotz der räumlichen Trennung liebte. Auch Jadas Vater dachte nicht daran, sich von seiner Frau zu trennen.


Jada hatte als einziges Kind zu beiden Elternteilen ein gutes Verhältnis, liebte aber ganz besonders ihren Vater. Wie ihr Vater war auch das Mädchen nach der Unabhängigkeit Algeriens französische Staatsbürgerin geworden. Als der Vater darum bat, die damals Siebenjährige mit nach Korsika zu nehmen, damit sie dort eine gute Schulausbildung erhielt, stellte sich die Mutter nicht dagegen.

Sie verlangte lediglich, dass ihre Tochter die Ferien immer bei ihrer Familie in Oran verbringen müsse.

Als Fred sie kennenlernte war sie 21. Sie hatte in Ajaccio ihr Examen als Laborassistentin gemacht und wegen der besseren Verdienstmöglichkeiten eine Stelle in der Schweiz gesucht, und war so in die Klinik gekommen. Ihre auf drei Monate befristete Arbeitsbewilligung lief im Mai aus, und Jada war gezwungen, das Land zu verlassen. Erst nach Ablauf von drei Monaten konnte sie erneut eine Bewilligung beantragen. Sie plante, zunächst vier bis sechs Wochen bei ihrer Familie in Oran zu verbringen und anschließend von Korsika aus Eine erneute Bewilligung zu beantragen.

Über den Abschied von ihr schrieb er später: (S. Points of no Return in Abschiede)


„Jada 

Ihre Arbeitsgenehmigung für die Schweiz lief ab. Sie hätte deshalb nur als Touristin im Land bleiben können. Sie wollte bis zum Erhalt einer neuen Arbeitsbewilligung, die sie mit Unterstützung der Klinik frühestens in drei Monaten bekäme, bei ihrer Familie in Oran bleiben.

Die Nacht vor ihrer Abreise verbrachten sie zusammen. Am Morgen saß er nach einer intensiven, aber stillen Begegnung auf dem Bett, um sich anzuziehen. Aus dem Radio klangen französische Chansons.

Als sie aus dem Bad kam, zog sie sich nicht gleich an, sondern setzte sich auf seinen Schoß. Sie presste ihr Gesicht an seinen Hals und umarmte ihn heftig. Als sie die Arme löste murmelte sie etwas auf Arabisch. Es klang so herzergreifend traurig, dass auch ihm die Tränen kamen. Sie ahnte, was er nicht wissen wollte: Es war ein Abschied für lange Zeit, vielleicht für immer.

Sie packte ihre Sachen in den Koffer, zog den Mantel an und gab ihm, den Koffer neben sich, noch einen Kuss.

„Au revoir! A bientôt, mon grand amour … Meine große Liebe“. (Ihr reizender, französisch gefärbter Akzent, wenn sie deutsch sprach...).

Sie wollte nicht, dass er sie zum Taxi begleitete, das bereits wartete. Er sah ihr nach, als sie die Treppe hinabging. Auf dem Absatz drehte sie sich zu ihm um und sagte energisch:

„Ferme la porte s’il te plaît! … Je t’en prie!“ (Mach bitte die Türe zu! Bitte!)

Er ging zurück in die Wohnung, und ordnete das Bett. Aus dem Radio klang gerade der Schluss von „Septembre“. Dieses Lied von „Barbara“ hatte sie sehr geliebt.

Jamais les fleurs de Mai n‘auront paru si belles.

Les vignes de l‘année auront de beaux raisins.

Quand tu me reviendras, avec les hirondelles,

Car tu me reviendras, mon amour, à demain.


Nie waren die Blumen im Mai so schön.

Die Stöcke werden gute Trauben tragen in diesem Jahr,

Wenn Du zurückkommst, mit den Schwalben.

Denn du kommst zurück zu mir, meine Liebe, bis bald..

(Ü: F.Boell 2018)

Beim Aufschütteln des Kopfkissens fand er einen Zettel. Darauf hatte sie mit Bleistift geschrieben:


Rappelle-toi a ta Jada, Denk’ an deine Jada,

combien je t’aimais, wie sehr ich dich liebte,

quand encore une fois wenn wieder einmal

une autre fille comme moi, ein Mädchen wie ich,

avec des cheveux noirs, mit schwarzen Haaren,

sur tes genoux auf deinem Schoss

t’embrasse. dich küsst.“


Auch für Fred ging die Zeit in der Klinik zu Ende. Kurz, nachdem sie gegangen war, verließ er die Schweiz und kehrte nach München zurück, um seine Ausbildung abzuschließen.

Das Leben mit seiner Frau am Starnberger See empfand er in den ersten Wochen als angenehm. Die Arbeit in der Klinik war interessant und forderte ihn. Auch die tägliche Routine – die morgendliche Fahrt mit der S-Bahn nach München, die Arbeit in der Klinik und die Wochenenden in Garmisch – gab seinem Leben einen festen Rahmen.

Am Anfang dachte er noch oft an Jada, vor allem, wenn er im Bett seinen ehelichen Verpflichtungen auf die immer gleiche Art nachkam, die seine Frau wünschte. Der Versuchung, Kontakt mit ihr aufzunehmen, widerstand er aber noch.

Eine Ehekrise in dieser Phase seiner Ausbildung wäre ein Desaster, und zudem wuchsen Zweifel, ob er die Zeit mit Jada nicht verklärt habe. War seine Erinnerung an sie womöglich eine optische Täuschung im Blick zurück?

Hatte er sich nicht auch zu Beginn seiner Liebe zu Lisa nicht vorstellen können, dass das Leben mit ihr die Last der Jahre vielleicht nicht überstehen würde? Und doch war es so gekommen.

Als er sich einmal besonders von Lisa eingeengt fühlte, rief er die Laborchefin der Klinik in Davos an, um ihre Adresse zu erfragen.  Als sie den Namen Jada hörte, begann sie zu weinen und sagte ihm unter Tränen, dass Jada bei einer Militärparade anlässlich des Nationalfeiertages am 5. Juli in Oran von einem Jeep erfasst und dabei getötet worden war. Abends im Bett weinte er still und dachte immer wieder an ihre Abschiedsworte:

„Au revoir! A bientôt, mon grand amour … Meine große Liebe“. In dieser Nacht schlief Fred nicht. Seine Frau hatte seinen Kummer nicht bemerkt. Am Morgen deutete sie. sein verquollenes Gesicht als den Beginn einer Erkältung. Sie ahnte nicht, wie recht sie in einem gewissen Sinne damit hatte.

* Nausikaa war die Tochter des Königs der Phaiaken. Odysseus wird nach einem Schiffbruch nackt und erschöpft an die Küste einer Insel gespült.

Nausikaa kommt mit ihren Dienerinnen zum Strand, um Wäsche zu waschen. Trotz seiner Nacktheit und seines jämmerlichen Zustandes erkennt sie seine edle Natur und gewährt ihm Hilfe. Sie versorgt ihn mit Kleidung und Nahrung, und bringt ihn zu ihrem Vater Alkinoos. Dieser nimmt ihn gastfreundlich auf und bietet nach einiger Zeit

Odysseus sogar an, Nausikaa zur Frau zu nehmen, sollte er bleiben wollen. Trotz aller Freundlichkeit bleibt sein Ziel aber die Heimkehr nach Ithaka. Die Phaiaken sind bekannt für ihre hervorragenden Seefahrerkünste und ihre magischen Schiffe. Alkinoos stattet Odysseus mit einem Schiff aus, das ihn am Ende sicher nach Ithaka zurück bringt.

9/2025

 
 
 
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