Der Gefangene
- fboell8
- 17. Juli
- 14 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. Sept.
Die Erzählung ist der zweite Teil der Reihe „Auf der Suche nach der vergangenen Liebe",
Der Titel orientiert sich an Marcel Prousts „Die Gefangene" („La Prisonnière".),
dem zweiten Band der „Recherche“.
Fred, das Alter Ego des Verfassers, begegnet auf seiner Irrfahrt im Meer der Liebe Lisa, seiner ersten Frau.
Der Name der Protagonistin wurde verändert. Sie verkörpert in dieser Erzählung die Kalypso* aus der Odyssee.
Lisa (1970-1976)
Fred wollte Chirurg werden. Ein anderes Fach kam für ihn nicht infrage. Die Chirurgen waren in seinen Augen Helden, die mit Skalpell und Nadelhalter um das Leben ihrer Patienten kämpften, stundenlang auf blutigem Schlachtfeld aushielten. Internisten dagegen betrachtete er als Weicheier, Stabsoffiziere, die über Plänen brüteten ohne je einen Sturmangriff geführt zu haben. Praktika hatte er bisher nur in chirurgischen Abteilungen gemacht, und schon zu Beginn seines Studiums stand für ihn fest, dass seine zukünftige Arbeitsstätte der Operationstisch sein werde. Das blieb auch so, nachdem er die ärztliche Prüfung, das Staatsexamen, bestanden hatte.
Voraussetzung für die Approbation als Arzt war aber Neben einer Pflichtzeit von sechs Monaten auf der Chirurgie auch eine Pflichtzeit von sechs Monaten in einer Abteilung für Innere Medizin.
Durch Vermittlung eines Verwandten seiner Mutter hatte er eine Stelle in der Klinik Niedermoos am Starnberger See bekommen, einer Spezialeinrichtung für Herz-und Kreislauferkrankungen. Dort begann am 1. März 1969 sein Berufsleben. Er trat die Stelle ohne Begeisterung an, es war eine Pflichtübung, die er auf dem Weg zur Anerkennung als Arzt ableisten musste.
Der Frühling 1969 war schön am Starnberger See. Fred wohnte mit Assistenten, Laborantinnen, Sportlehrern und Küchenpersonal im Wohnheim der am Rand des Sees gelegenen Klinik.
Abends traf man sich am privaten Badestrand der Klinik, tauschte Neuigkeiten und Klatsch aus, knüpfte Kontakte, traf Verabredungen.
Lisa arbeitete im EKG-Labor.
Sie war mit etwa einsechzig relativ klein. Ihre brünetten, halblangen Haare mit Mittelscheitel umrahmten ein blasses Gesicht. Die braunen Augen, die hohen Wangenknochen und ein rätselhaften Zug um den Mund erinnerten Fred am Anfang ihrer Bekanntschaft an eine der geheimnisumwitterten Russinnen aus der Zeit Dostojewskis oder Gontscharows.
Ihre gesamte Erscheinung war von einer unaufdringliche Weiblichkeit: die gut, aber nicht provokativ ausgeprägte Brust, die schlanken Beine und die fraulich geformten Hüften gaben ihr ein harmonisches Erscheinungsbild.
Die Laborantinnen badeten bei schönem Wetter abends im See, und der Neuling erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie fragten nach seinen Lebensumständen, und interessierten sich, wie alle jungen Frauen überall auf der Welt, für seine Lebensumstände, vor allem, ob er verheiratet war oder eine feste Freundin hatte. Fred schloss ich an ihre Gruppe an, und aus der kollegialen Freundschaft für Lisa entwickelte sich nach und nach Interesse, Anziehung, Begehren. Sie verhielt sich nicht abweisend, blieb aber zurückhaltend und sandte ihm keine eindeutigen Signale, dass sie für eine Beziehung mit ihm offen sei.
Fred war bald heftig in sie verliebt, und wie alle Verliebten begann er, sie Fantasien um sie zu spinnen. Er sah sie als Frau, die ein Geheimnis umgab, eine Aura mysteriöser Tragik, deren Ursachen er ergründen wollte.
Er begann, ihr „Billets d´amour“ zu schreiben, machte Verse über ihre Erscheinung, ihr Wesen, seine romantische Sehnsucht. Sie verhielt sich seinem heftiger werdenden Werben, seinen schon bald offen ausgesprochene Heiratsabsichten gegenüber reserviert, was sein Begehren noch mehr anstachelte.
Im Spätsommer des Jahres, am Ende seiner Zeit in der Klinik, öffnete sich Lisa seinem Werben dann doch ein wenig. Später vermutete er, dass der Grund dafür ihre Familie war, die sie möglicherweise gedrängt hatte, eine Verbindung mit ihm zumindest zu erwägen.
Ihre Argumentation könnte, so seine Überlegung, gelautet haben: Lisa, du bist jetzt mit 31 noch nicht alt, und hast die Möglichkeit, einen Arzt als Mann zu bekommen. Deine bisherigen Beziehungen verliefen nicht sehr glücklich, und das war meistens deine Schuld. Fred ist sehr verliebt in dich, lies nur einmal seine Gedichte! Wenn du auch jetzt seine Liebe noch nicht erwidern kannst, er ist dir jedenfalls nicht zuwider, und der Rest ergibt sich von selbst.
Fred wurde im Sommer des Jahres nach Garmisch eingeladen, wo ihre Familie wohnte. Bei dieser Gelegenheit erfuhr er mehr über ihre Vergangenheit.
Ihre Mutter Edith stammte aus einer großbürgerlichen Familie in Berlin, ihr Großvater war Direktor einer Privatbank, die Familie wohnte in einem villenartigen Bürgerhaus in Dahlem. Edith, das einzige Kind, wurde in einem Internat erzogen, wo sie Englisch und Französisch lernte und Klavierunterricht bekam. Vor allem aber lernte sie, wie man sich in der höheren Gesellschaft angemessen bewegt.
Lisas Vater war Angestellter der Bank. Die Ehe war in den Augen ihres Vaters eine Mesalliance, die er ablehnte. Edith aber setzte sich durch: sie wollte diesen Mann und keinen anderen. Er fiel nach einem halben Jahr Kriegsdienst in Russland, seine jüngere Tochter Marianne war da gerade ein halbes Jahr alt.
Am Ende des Krieges wurde das Haus der Großeltern durch eine Bombe zerstört, Lisas Großvater hatte tot im Garten gelegen.
Ihre Mutter floh mit ihren beiden Töchtern aus Berlin und kam mit Unterstützung ungarischer Soldaten nach Garmisch-Partenkirchen.
Lisas Mutter hatte dort ein Bettengeschäft eröffnet, das bald prosperierte. Nach einigen Jahren konnte die Familie komfortabel in einem eigenen Haus leben.
In Garmisch lernte sie ihren zweiten Mann Rolf kennen. Er stammte aus Gütersloh, hatte eine Ausbildung zum Textilverkäufer für Herrenmoden und besuchte nach dem Krieg auf ein gehobenes Segment spezialisierte Ausstatter in ganz Deutschland.
Sein Aussehen und sein Auftreten als gut gekleideter, eleganter Grandseigneur brachte ihm beruflichen Erfolg. Als Fred ihn kennenlernte war er ein noch gut aussehender alter Mann mit vollem weißen Haar und einem markanten Gesicht, das von einer großen Nase beherrscht wurde. Erst später zeigte sich, dass er hinter dieser Fassade ein altersdementer, zu Depressionen neigender herzkranker Mann steckte. Er lebte ganz in der Einbildung, ein Künstler zu sein, weil er als Hobbymaler einige Ölbilder gemacht hatte.
Lisa´s jüngere Schwester Marianne hatte früh geheiratet. Sigi, ihr Mann, studierte Betriebswirtschaft in Innsbruck, und das schon viele Jahre.
Im Klartext: Er war ein Bummelstudent, aber ein netter Typ. Fred mochte ihn.
Die Begutachtung durch ihre Familie war positiv verlaufen. Als er die Klinik im Sommer verließ, hatte ihm Lisa noch keine Zusagen gemacht, geschweige denn sein Bett mit ihm geteilt. Das änderte sich - für Fred völlig überraschend - als er bereits seine chirurgische Pflichtzeit in Deggendorf begonnen hatte.
Er hatte sich mit ihr an einem Wochenende in der Wohnung seiner Eltern in München getroffen, als sie sich plötzlich auszog und ins Bett legte. Das bedeutete, dass sie ihn heiraten wolle.
Fred war glücklich. An seinem nächsten freien Wochenende fuhren sie als Verlobte nach Garmisch. Seiner eigenen Familie stellte er seine künftige Frau einige Wochen später auf einer Urlaubsreise vor.
Die Hochzeit war im Frühjahr 1970. Die Ausrichtung übernahm seine Schwiegermutter. Fred wurde dem Anlass und seinem Stand entsprechend von ihr ausgestattet. Sein dunkler Anzug war maßgeschneidert, die Accessoires, vom Einstecktuch und Schuhen bis zu den Manschettenknöpfen und der Fliege, wurden von einem Herrenschneider zusammengestellt.
Die standesamtliche Trauung erfolgte am Vormittag des Hochzeitstages im Gemeindeamt. Anschließend empfingen sie in der katholischen Pfarrkirche St. Martin in Partenkirchen, um einer pompösen Zeremonie einen adäquaten Ausdruck zu verleihen, das Sakrament der Ehe. Gefeiert wurde im Hotel Partenkirchener Hof, wo auch die auswärtigen Gäste untergebracht waren. Die Gesellschaft setzte sich vor allem aus Freunden und Verwandten von Fred zusammen. Auf Lisas Seite gab es keine Verwandten mehr und ihre Mutter hatte lediglich einige Geschäftsfreunde eingeladen.
Die Choreografie folgte den Gewohnheiten dieser Zeit: Zwischen den Gängen des Festessens gab es Lobreden auf das Brautpaar ohne Ende, nach dem Essen spielte eine Kapelle den Brauttanz, dann feuchtfröhliches Beisammensein bis spät in die Nacht.
Die Hochzeitsreise holten sie einige Monate später nach. Auf Anraten von Sigi fuhren sie eine Woche an den Neusiedlersee im Burgenland. Die Tage dort flogen mit Baden im See, Ausflügen in die Umgebung - Fred erinnerte sich später nur an das Haydnhaus in Eisenstadt - dahin. Die Abende verbrachten sie meist den ungarischen Restaurants, in denen Zigeunermusiker aufspielten.
Sie gingen zu dritt oder viert von Tisch zu Tisch und spielten auf Geige, Akkordeon, Gitarre und Tarogato, einem alten Blasinstrument, eine Musik, die Fred begeisterte. Es war meist eine Folge aus einem langsam beginnenden und dann immer schneller werdenden Czardas und traurigen Melodien, die ihm Tränen in die Augen trieben.
Nachts beschäftigten sie sich, wie sich das für Flitterwöchner gehört, mit ihren Körpern. Dabei war Fred eifriger als Lisa. Am vierten Tag bekam sie eine Blasenentzündung und Fred eine Darminfektion. Damit hatte es mit der vorher geübten Erkundung der Körper ein Ende. Sie stand immer noch im Mittelpunkt ihres Interesses, aber auf eine völlig andere Art als vorher.
Sein Durchfall war schlimmer als das, was er auf der Indienreise erlebt hatte. Er war so kraftlos, dass er die meiste Zeit im Bett blieb. Lisa konnte ihre ehelichen Pflichten nicht mehr erfüllen, was ihr vielleicht gar nicht ungelegen kam. Als er wieder einigermaßen auf den Beinen war, hieß es packen und abreisen.
Nach seiner Pflichtzeit blieb er als Assistenzarzt auf der Chirurgie in Deggendorf übernommen. Die Bezahlung war wesentlich besser als vorher.
Sie mieteten eine komfortable Dreizimmerwohnung in Bogenhausen. Lisa gab ihre Stelle in Niedermoos auf und arbeitete jetzt als MTA in einem zytologischen Labor in der Nähe der Wohnung.
An seinen freien Wochenenden trafen sie sich in München. Wenn er Wochenenddienst hatte und nicht nach München kommen konnte fuhr sie zu ihrer Mutter nach Garmisch. Längere Zeit zusammen verbrachten sie nur während des Urlaubs.
Private Kontakte gab es in dieser Zeit wenig. Lisa lud einmal eine Arbeitskollegin und ihren Mann zum Abendessen ein, eine regelmäßige Verbindung ergab sich daraus aber nicht. Fred traf sich mit Wolfgang und José, seinen Freunden aus der Studentenzeit, zu einem Pokerabend. Eine Wiederholung gab es auch hier nicht. Lisa hatten seine Freunde nicht gefallen, die viel getrunken hatten, laut gewesen waren und ständig spanische Flüche von ausstießen, die sie - glücklicherweise - nicht verstand. Fred wollte aber die Verbindung mit Wolfgang nicht verlieren. Sie verabredeten sich deshalb einmal im Monat zu einem Spielenachmittag bei einem ehemaligen Klassenkameraden aus Freds Zeit auf dem Gymnasium in X.
Ernst, so sein Name, hatte sich als Tierarzt in der Nähe Münchens niedergelassen. Dort lernte Fred Gert L. kennen, den Privatassistenten des Direktors der Dermatologischen Klinik der Technischen Universität München, Professor B. Diese Begegnung wat für sein weiteres Leben von großer Bedeutung, da sie zwei Jahre später seinen eigenen Weg in diese Klinik bahnte.
Im Anfang seiner Ehe hatte Fred die Ordnung seines Lebens im Sinne von Lisas bürgerlicher Vorstellung als angenehm empfunden. Aber im Laufe der Zeit fühlte er sich durch die Starre der immer gleichen Abläufe eingeengt. Lisas Vorstellungen über den Ehealltag, ihre Regeln für das, was sich gehörte und das, was sich nicht gehörte, waren noch spießiger, als das Leben in seinem Elternhaus. Spießbürger hatte er immer gehasst, er wollte alles, nur nicht so leben wie sie.
Feinsinniger Humor, Diskussionen über Literatur und Philosophie, kurz alles Intellektuelle, waren für sie nichts als Spinnereien, alles dionysische in ihren Augen Teufelswerk.
Der starke erotische Sog, den sie zu Beginn ihrer Beziehung auf ihn ausgeübt hatte, war schnell abgeklungen. Ihre ehelichen Begegnungen verliefen stereotyp. Aus Rücksicht auf sie stellte er keine Ansprüche daran, die über das ihr gehörig erscheinende Maß hinausgingen. Wenn er Wochenenddienst hatte, sahen sie sich zwei Wochen nicht. Sie hätte ihn dann in Deggendorf besuchen können, tat es aber nie. So fiel sein Blick auf andere Frauen, mit denen er im Krankenhaus täglich zusammenarbeitete: Schwestern, Laborantinnen, Verwaltungsangestellte. Sie waren jünger als seine Lisa, und erschienen ihm temperamentvoller und begehrenswerter als sie.
An den freien Abenden hörte er wieder die Musik aus der Zeit vor ihr, der Zeit mit Christine. Die fünfte Sinfonie von Schubert, das Violinkonzert von Beethoven, die Songs aus „Hair“, alles das, was sie gehört hatten, wenn sie liebessatt im Bett lagen. Der Versuchung, auf fremden Wiesen zu grasen, gab er aber nicht nach. Sein am Altar abgegebenes Treueversprechen Lisa gegenüber war stärker.
Im Oktober 1970 wurde er zu einem 18-monatigen Pflichtwehrdienst bei der Bundeswehr eingezogen. Er kam als Stabsarzt in eine Sanitätskompanie der Luftwaffe bei Ingolstadt. Das bedeutete eine weitere Fortsetzung ihrer seit Anfang bestehenden Wochenendehe.
Nach der Entlassung begann er im April 1972 seine Facharztausbildung in der Dermatologischen Klinik der TU München. Auf Empfehlung von Gert L. hatte er sich beworben und erhielt die Stelle unter der Bedingung, vor Abschluss seiner Ausbildung zwei Jahre in einer Hochgebirgsklinik in Davos zu arbeiten, die in Personalunion von Professor B., dem Direktor der Münchner Klinik, geleitet wurde.
Auf diesem Weg hatten vor ihm einige seiner späteren Kollegen ihren Facharzt bekommen. Nach einigem Zögern gab Lisa ihre Stelle in München auf, da man Fred in Aussicht gestellt hatte, sie könne als Laborantin in der Davoser Klinik arbeiten, sobald dort eine Stelle frei würde.
Eine Facharztausbildung zum Dermatologen? Wie das? Fred hatte doch immer Chirurg werden wollen.
Von diesem Wunsch wurde er in seiner Zeit in Deggendorf gründlich geheilt.
Die Arbeit als Chirurg war interessant und er hatte das dafür erforderliche manuelle Geschick. Doch die Praxis zeigte ihm bald die andere Seite: die ständige Belastung durch Notfälle, Nachtdienste und Wochenendbereitschaften – und die bitteren Niederlagen, wenn ein Kind trotz aller Bemühungen starb oder eine Schwangere verblutete. Diesem Druck fühlte er sich auf Dauer psychisch nicht gewachsen.
Hinzu kam ein weiterer Grund, den ursprünglichen Plan fallen zu lassen: Seine Frau litt an Neurodermitis. Anfangs hatte die Krankheit Wenig Probleme gemacht, doch während seiner Zeit bei der Bundeswehr traten heftige Schübe auf, einer davon so schwer, dass ein Klinikaufenthalt nötig wurde. Auf diese Weise lernte er die Klinik und ihren Chef von innen kennen, und bewarb sich um eine Assistentenstelle.
Fred sollte seine Stelle in Davos Anfang 1973 antreten. In den Monaten von April bis Dezember 1972 wurde er in der Klinik auf die Aufgabe vorbereitet. In dieser Zeit kam zum ersten Mal in den bisher zwei Jahren ihrer Ehe etwas wie ein Alltag in ihr gemeinsames Leben. Darin fühlten sich beide wohl.
Fred gefiel die Arbeit, die medizinische Welt hatte sich in der Universitätsklinik für ihn geweitet. Bildlich gesprochen war er von einer Holzhütte in eine Villa gekommen. Wenn er abends voll neuer Eindrücke in die Wohnung zurückkehrte, fühlte er sich in der wenig abwechslungsreichen Routine des Lebens mit Lisa wohl.
Die Wochenenden verbrachten sie meist bei den Schwiegereltern in Garmisch. Seine Schwiegermutter hatte ihn wegen seines medizinischen Wissens, seiner geistigen Interessen und seiner Liebe zu Musik schätzen gelernt, war sie doch selbst in einer gebildeten Welt aufgewachsen. Zu den Geburtstagen und an Weihnachten bekam er von ihr immer ein Buch oder eine besondere Musikaufnahme geschenkt, etwas, von dem sie glaubte, dass es seinen Geschmack traf. Bei der Auswahl blieb sie dabei immer im Rahmen des schicklichen, Ihre Geschenke waren nie kitschig, blieben aber in den Konventionen ihrer bürgerlichen Welt.
Fred traute deshalb seinen Augen nicht, als er zu seinem Geburtstag 1972 „Sexus“ von Henry Miller geschenkt bekam. Es stellte sich heraus, dass sie es auf Empfehlung ihres Buchhändlers gekauft hatte, der es als besonders geeignet für Liebhaber moderner Literatur gepriesen hatte.
Henry Miller war kein Neuling für Fred. Die Wendekreise und Stille Tage in Clichy hatte er mit Begeisterung gelesen. Er war von dem unersättlichen Lebensdurst des Autors, der Rasanz der Sätze, mit denen er seine Befreiung von konventionellen Lebensformen beschrieb, mitgerissen. Kurz: Miller gehörte wie John Steinbeck und Dostojewski zu seinen Lieblingsautoren.
Und jetzt „Sexus“! Geschenkt von seiner Schwiegermutter, die in Fragen der Konvention so konservativ dachte und lebte! Es war ausgeschlossen, dass sie es selbst gelesen hatte, sonst hätte sie es in die Buchhandlung zurückgebracht. Als er darin zu lesen begann konnte er sich dem Sog des Textes, dem Tempo und der Wucht der Sätze Millers nicht entziehen. Miller schrieb von seiner Lösung vom tristen Alltag seines Berufs und seiner Ehe in Brooklyn, dem Beginn eines neuen Lebens, eines freien Lebens ohne Konventionen und sexuellen Beschränkungen.
Wie in einem Spiegel erkannte er die Tristesse seines eigenen Lebens, die Langeweile und Farblosigkeit seiner Tage mit Lisa, ihre Trockenheit und Starrheit im Bett. Hatte sie jemals Lust empfunden? Es wirkte sehr wie die Erfüllung einer lästigen Pflicht, wenn sie sich sonntags nach dem Mittagessen für ihn bereit machte. Oft hatte er an seine Zeit mit Christine gedacht, sich deren Schmiegsamkeit und Lust an Varianten gewünscht.
Als sie heirateten hatten sie sich Kinder gewünscht, aber eine Schwangerschaft stellte sich trotz gezielter Bemühungen nicht ein. Anfänglich bedauerte er, dass sie keine echte Familie wurden, später war er gleichgültig und am Ende froh darüber.
Millers Worte, ein Mann müsse bis zum 33. Lebensjahr - dem Jesusalter, wie er es nannte - eine seiner Natur adäquate Lebensweise verwirklicht haben, beeindruckten ihn tief. Jenseits dieser Grenze, so Miller, sei eine Änderung der Richtung nicht mehr möglich. Er hatte den Eindruck, dass diese Sätze direkt an ihn gerichtet waren. Er war jetzt 30, und somit blieben ihm noch drei Jahre.
Das Leben mit Lisa und ihrer bürgerlichen Ordnung nahm ihm Tag für Tag mehr die Luft zum Atmen. Hatte ihn am Anfang ihr konservatives Weltbild noch angezogen, empfand er zunehmend Überdruss und Abneigung gegenüber dem langweiligen Leben mit ihr. Die Frage, deren Beantwortung er noch scheute, war nicht, ob er ausbrechen würde sondern wann.
Im Januar 1973 zogen sie nach Davos. Lisa war es immer schwer gefallen, neue Kontakte zu knüpfen, und sie fühlte sich dort von Anfang an nicht wohl. Das Leben im Ausland, die ihr fremde Mentalität der Bergbewohner, die Unsicherheit, was sie erwartete wenn sie eine Arbeitsstelle bekäme, alles machte ihr Angst.
Als sich herausstellte, dass es in absehbarer Zeit keine Möglichkeit geben würde, in ihrem Beruf zu arbeiten, kehrte sie nach München an ihrer alte Arbeitsstelle zurück. Sie wohnte in ihrer Wohnung in Bogenhausen, die sie noch nicht gekündigt hatten. Sie wollten sich an den Wochenenden in Garmisch treffen und so die Freds Aufenthalt in Davos, die auf etwa ein Jahr veranschlagt war, überbrücken. Sie hatten ja auch bisher meist in einer Wochenendehe gelebt, und es hatte Ihnen nicht geschadet. Fred hatte keine Probleme sich einzuleben. Kontakte ergaben sich durch seine Arbeit von selbst. Er verstand sich von Anfang an sehr gut mit seinem Chef, den Kollegen, Krankenschwestern und Laborantinnen.
In den ersten Wochen wurde er von Euphorie erfasst. Er spürte einen vitalen Elan, einen Schwung, der alle Bereiche seines Lebens erfasste, eine unbändige Lebenslust. Dieses Phänomen betraf viele Menschen am Anfang, wenn sie aus der Ebene ins Hochgebirge kamen. Sein Oberarzt und späterer väterlicher Freund G. bestätigte diese Beobachtung, sie sei keine Einbildung, sondern habe eine körperliche Ursache: die Kortisolproduktion im Körper steige durch den Reiz des Gebirgsklimas an. Das sei auch der Grund dafür, dass sich allergische Erkrankungen und Asthma in diesem Klima besserten. Die therapeutischen Erfolge der Klinik beruhten im wesentlichen darauf. Bei längerem Aufenthalt bildet sich der Wert allerdings wieder auf das vorherige Niveau zurück.
Dass Fred Lisa in dieser Zeit nicht wirklich vermisste, ist nicht verwunderlich. Im Gegenteil, er war froh, ein Stück Freiheit zu gewonnen zu haben. Verstärkt durch die hormonellen Veränderungen begann Millers Saat nun aufzugehen.
Versuchungen durch andere Frauen Boden häufiger. Sie ging besonders von Patientinnen aus, die ihrerseits den Aufenthalt in der Klinik als Vitalisierung spürten. Aber dagegen wappnete ihn ein Verdikt, das er sich selber gegeben hatte: nie während einer laufenden Behandlung ein Verhältnis mit einer Patientin zu beginnen.
Als im Austausch eines Kollegens eine unverheiratete Ärztin aus München in die Klinik kam fiel er. Sie hatte wenig Mühe, ihn durch weibliches Raffinement und gezielten körperlichen Einsatz in ihr Bett zu locken. Er genoss dieses Verhältnis, litt aber gleichzeitig auch unter starken Gewissensbissen seiner Frau gegenüber, die er an den Wochenenden in Garmisch traf. Aber auch als seine Geliebte ihr Bett aus seiner Wohnung in den Wohnwagen des Klinikpsychologen verlegte, blieben seine Selbstvorwürfe bestehen, sondern verstärkten sich sogar.
Weitere Deviationen gab es lange nicht, bis er sich einige Monate vor seinem Ende seiner Zeit in Davos in eine Laborhelferin verliebte, die aus Algerien stammte. (S. „Jada“ in Die Entschwundene). Zum ersten Mal erlebte Fred mit ihr eine Liebesbeziehung, in der beide Partner gleich viel auf die Waagschale brachten, Jada vielleicht noch mehr als er selbst. Die Sache endete unglücklich, wie an anderer Stelle berichtet wird. (S. „Points of no Return“ in Abschiede).
Anfang 1975 hatte Lisa in einer Wohnung im Haus eines verstorbenen Arztes am Starnberger See eine Wohnung für sie gemietet. Ihre Stelle in München hatte sie aufgegeben und wieder als technische Assistentin in der EKG-Abteilung der Klinik Niedermoos angefangen, wo sie sich kennen gelernt hatten. Im Mai kehrte Fred nach München zurück. Er wurde wissenschaftlicher Assistent in der Münchner Klinik, um seine Facharztausbildung abschzuließen. Die Fahrt von ihrer Wohnung nach München dauerte eine knappe Stunde mit der S-Bahn.
Das tägliche Leben mit Lisa fand Fred trotz seines Kummers über den Verlust von Jada angenehm. Die Erinnerung an Davos wurde durch die neue und herausfordernde Arbeit in der Münchner Klinik schnell verdrängt.
Nach einigen Monaten aber begann er erneut, sich eingeengt zu fühlen. Insbesondere die ständigen Aufenthalte an Wochenenden in Garmisch störten ihn. Hätte lieber in dieser Zeit an seiner fachlichen Fortbildung gearbeitet.
Abends im Bett kam ihm oft Jada in den Sinn, und immer drängender hallten die Worte Henry Millers über das Jesusalter in ihm nach.
Er war jetzt 32. Er hatte in Davos die Luft der Freiheit und Unabhängigkeit geatmet, hatte mit Jada erlebt, wie Liebe sein kann. Er verkroch sich zunächst in die innere Emigration, der bald die Emigration nach außen folgen sollte.
Den Dammbruch brachte Nica. (S. Der Befreite).
* Kalypso ist eine Nymphe, die auf der abgelegenen Insel Ogygia lebt, wo Odysseus nach einem Schiffbruch strandet. Sie verliebt sich leidenschaftlich in ihn und hält ihn sieben Jahre lang auf ihrer Insel fest. Sie bietet ihm sogar Unsterblichkeit und ewige Jugend an, wenn er bei ihr bleibt - ein Angebot, das Odysseus ausschlägt. Er sehnt sich unablässig nach seiner Heimat Ithaka und seiner Frau Penelope.
Kalypso lässt den Odysseus erst auf göttlichen Befehl frei und hilft ihm sogar beim Bau eines Flosses, mit dem er in See sticht.
9/2025
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