Die Gefundene
- fboell8
- 17. Juli
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. Sept.
Mit dieser Erzählung schließt die Reihe „Auf der Suche nach der vergangenen Liebe".
Der Titel orientiert sich an Marcel Prousts „Die wiedergefundene Zeit" („Le Temps retrouvé“), dem siebten Band der „Recherche“.
Fred, das Alter Ego des Verfassers, muss sich im August 2011 einer Prostata-Operation unterziehen.
Maria verkörpert in dieser Erzählung die Penelope* aus der Odyssee.
Maria - Penelope (1980-
August 2011
Das Kapitel „Points of no Return“ über das Ende einiger seiner Liebesbeziehungen hatte er vor der Operation nicht mehr abschliessen können.
Er plante, die letzte Episode „Isotta - 1975-1979" nach der Operation fertigzustellen, wenn möglich noch im Krankenhaus.
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Etwas berührte ihn am Arm. Es war Maria, die ihn weckte.
Das Taxi kam pünktlich um acht. Der Fahrer verstaute seinen Trolli im Kofferraum, die Aktenmappe mit Senecas „Vom glücklichen Leben“, einigen CDs und dem Manuskript seiner Lebenserinnerungen behielt er bei sich.
Die Fahrt dauerte wegen des geringen Verkehrsaufkommens am Samstag nur eine knappe Stunde. Er bezog ein ruhiges Einzelzimmer im obersten Stock der Klinik. Der Tag verging rasch mit Formalitäten, einem Spaziergang im sonnigen Klinikgarten, Kaffee und Kuchen. Am Abend machten sie noch einen kurzen Bummel durch die benachbarten Straßen.
Angehörige von am Wochenende anreisenden Patienten konnten samstags kostenfrei im Haus übernachten und sie nutzten dieses Angebot. Im Zimmer hörten sie abends einige Kapitel aus einer Lesung von „Der Golem“ an, und gingen früh zu Bett.
Am Sonntagmorgen besuchten sie nach dem Frühstück in einem nahe gelegenen Museum eine Ausstellung, die ihnen bei ihrem Rundgang am Abend aufgefallen war. Mittags aßen sie in einem italienischen Restaurant, Gingen ins Zimmer und schliefen miteinander. Nach einem beide tief bewegenden Abschied fuhr Maria zum Bahnhof.
Allein im Zimmer befiel Fred eine tiefe Niedergeschlagenheit, nicht vergleichbar der postkoitalen Tristesse, die er früher manchmal erlebt hatte.
Er schaltete den Fernseher ein und wechselte schnell durch die Programme, und lief zunehmend angespannt im Zimmer umher. Schließlich setzte er sich in einen Sessel und zwang sich, im Seneca zu lesen. Die Panik legte sich, aber eine quälende Nervosität blieb.
Er schlug das Kapitel „Points of no Return“ seiner Lebenserinnerungen auf, an dem er zuletzt gearbeitet hatte. Es umfasste die Zeit von 1961-1979. Die einzelnen Episoden waren bis auf den Schluss, der seine Beziehung zu Isotta behandelte, im Entwurf fertig.
Er legte das Manuskript beiseite. Heute mittag, das mit Maria im Bett, war auch ein Abschied gewesen,
der Abschied von seiner Zeugungsfähigkeit, aus der seine beiden Söhne hervorgegangen waren.
Er schluckte eine Schlaftablette, und legte sich ins Bett.
„Die letzte scharfe Patrone. ... Alles hat ein Ende. ... Aber die Gefühle hat man auch danach noch, sagte der Professor ... Bin gespannt … ...“
Er schlief ein.
In der Nacht schrak er auf, weil sich auf dem Flur vor seinem Zimmer zwei Männer laut unterhielten. Er nahm eine zweite Tablette, schlief aber nur mit Mühe wieder ein.
Am Morgen wird er um halb acht abgeholt. Man rollt ihn in seinem Bett zum Aufzug, es geht zwei Stockwerke abwärts, dann über einen langen Gang in einen anderen Trakt der Klinik. Im Vorbereitungsraum legt man ihm einen Brustgurt zur Überwachung seines EKGs und ein Blutdruckmessgerät an.
Eine Frau Mitte dreissig in weissem Klinikdress stellt sich als Laura B., seine Anästhesistin, vor. Sie wird ihn während und nach der Operation überwachen. Nachdem sie einige Kanülen gelegt hat fragt sie:
„Können wir loslegen?“
Er nickt, sie sagt noch etwas, das er aber schon nicht mehr genau versteht.
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…Laura … Dante? … nein Petrarca! … Dante war Francesca da Rimini … in Rimini war ich nie …
Er lacht.
... Brindisi … eine Melodie ging ihm durch den Kopf ...
Er spürt eine Berührung an der Hand, hört eine Stimme wie aus fernen Lautsprecher, und schlägt die Augen auf.
Maria sitzt neben ihm.
„Was ist los? Wo sind wir?“.
„Wir sind im Aufwachraum. Wie geht es dir? Du hast so gestöhnt und dann plötzlich gelacht. Hast du Schmerzen?“
„Nein, überhaupt nicht. Ist es schon vorbei?“.
„Ja, du bist schon seit einer halben Stunde hier“.
„Wie lange hat es gedauert?“.
„Fünf Stunden“.
Er blickt sich um, sieht rechts und links andere bereits operierte Patienten. Nach etwa einer Viertelstunde springt die automatische Tür auf und der Professor kommt herein.
„Es ist alles gut gelaufen“, sagt er, „ich konnte die Drüse vollständig entfernen und habe keine verdächtigen Lymphknoten gefunden. Im Gefrierschnitt gab es keinerlei auffällige Veränderungen im Kapselbereich. Insgesamt sieht es sehr gut aus. In einer halben Stunde werden Sie auf die Station zurückgebracht und wir sehen uns dann morgen bei der Visite!“
In den nächsten Stunden fühlte er sich euphorisch. Er scherzte mit den Stationschwestern, sagte, die Operation sei doch nur ein Klacks gewesen, morgen würde er wieder herumspazieren.
Nach dem Abendessen fuhr Maria nach Hause, spätestens morgen mittag würde sie wieder bei ihm sein.
Abends um zehn Uhr wurde sein Urinbeutel geleert und man stellte ihm Schmerztropfen und „etwas zum schlafen“ auf den Nachttisch. Er liess beides stehen, drehte sich auf die Seite und schlief sofort ein.
Auf ihrem Rundgang um Mitternacht weckte ihn die Nachtschwester, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Er war verärgert über die Störung, und antwortete nur knapp: „Gut. Aber ich bitte Sie, mich jetzt schlafen zu lassen“.
Nach einer Woche wurde er entlassen. Die abschliessende Visite machte diesmal der Professor selbst. Ein weißer Schleier aus Oberärzten, Assistenten und Pflegepersonal folgte ihm. Bei der scherzhaften Frage, ob sein Strahl wieder so kräftig sei wie früher, wirkte das Grinsen seiner Entourage etwas gequält. Das hatten sie offensichtlich schon öfters gehört.
„Kräftig nicht gerade, aber es läuft gut“.
Der Professor verabschiedete sich mit Handschlag und der weiße Schwarm flog, wie durch einen geheimnisvollen Sog gezogen, wieder zur Tür hinaus.
Er bekam einen Bericht für seinen Urologen und ein Rezept über Viagra, dann konnte er gehen. Das Viagra hat er nie genommen. Es gab andere Probleme, die wichtiger waren. Wie es um seine Potenz stand, würde sich beizeiten zeigen.
Vordringlich war die Kontrolle über seine Blase. Er trug in den ersten Wochen nach der Operation spezielle Unterwäsche, bis eine konsequente Beckenbodengymnastik den Schließmuskel so weit gestärkt hatte, dass er sich in der Öffentlichkeit halbwegs sicher bewegen konnte. In dieser Zeit hatte er keinerlei sexuelles Verlangen, was weder eher noch seine Frau als Mangel empfinden.
Zu Weihnachten traf sich seine Familie wie jedes Jahr in seinem Haus. Am Ende des in großer Harmonie verlaufenen Abends lag er schon im Bett, als Maria noch einmal herein kam.
„Jetzt hätte ich doch beinahe dein Weihnachtsgeschenk vergessen“, sagte sie augenzwinkernd.
„Wir schenken uns doch nie etwas“, hatte er vorsichtig geantwortet.
Sie legte sich zu ihm und „sie plauderten miteinander“, wie es in den „Erzählungen aus den 1001 Nächten“ heißt.
Eine wohlige Müdigkeit überkam ihn, als sie ihn mit einem Gute-Nacht-Kuss verlassen hatte.
„… plaisir sec … cold gun … auch nicht schlecht … Ja … ...“
Am nächsten Tag nahm er die Arbeit an „Points of no Return“ wieder auf, die er während des Klinikaufenthalts entgegen seiner Absicht nicht hatte beenden können. Nach einigen Tagen hatte er mit „Isotta - 1975-1979“ der Kette seiner Beziehungen das vorletzte Glied hinzugefügt. Er war glücklich, dass er Maria nicht in diesen Reigen hatte aufnehmen müssen. Er war dankbar für die Jahre mit ihr, und er hoffte, dass sie noch möglichst lange zusammen durchs Leben gehen könnten. Der „Point of no Return“ würde für sie beide der Tod sein - seiner oder ihrer.
* Penelope
Während Odysseus zwanzig Jahre weg ist (10 Jahre Trojanischer Krieg, 10 Jahre Irrfahrten), wartet Penelope in Ithaka auf seine Rückkehr.
Zahlreiche Freier drängen sich in Odysseus’ Haus, verzehren die Vorräte und wollen Penelope zur Heirat zwingen, um die Herrschaft über Ithaka zu gewinnen. Penelope bleibt jedoch Odysseus treu und wehrt die Freier mit List und Klugheit ab.
Berühmt ist die „Leichentuch-List“: Sie webt ein Tuch für Odysseus’ Vater Laertes und verspricht, nach dessen Fertigstellung einen neuen Mann zu wählen. Doch nachts trennt sie heimlich wieder, was sie am Tag gewebt hat.
Als Odysseus schließlich verkleidet zurückkehrt, erkennt sie ihn nicht sofort. Erst nach mehreren Prüfungen und durch die berühmte „Bettprobe“ beweist er ihr, dass er wirklich Odysseus ist. Sie befiehlt nämlich, das Ehebett aus dem Schlafgemach hinauszutragen und für den Gast herzurichten. Odysseus weiß, dass dies unmöglich ist – denn er selbst hat das Bett einst gezimmert, und es ist untrennbar mit dem lebenden Stamm eines Olivenbaums verwachsen, um den er das Schlafgemach gebaut hat. Nur er kann dieses Geheimnis kennen.
Penelope gilt als Inbild der ehelichen Treue. Sie ist aber nicht nur passiv. Sie ist klug, strategisch denkend, und in ihrer Art ebenso listenreich wie Odysseus.
9/2025
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